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24 Jul 2017
Wie ein Fahrrad aufbrechen, wenn gerade kein Drogendealer in der Nähe ist?

Als wäre es nicht schon genug (das Sein), kam nun auch noch der Bus nicht. X war doch hungrig und wollte Pizza, aber die gab es erst am Ende der Strecke, die X mit dem Bus zurücklegen wollte, da sie zu lang war, um zu Fuß zu gehen, aber zu kurz, um sie mit anderen Verkehrsmitteln zu umfahren, es war zum Auswachsen! Zahlreiche Horrorszenarien drängten sich X auf: Die Pizzeria – geschlossen, hinter Glas X‘s Pizza. Deutlich zu erkennen, aber unerreichbar. Oder: Zugrunde gehen an der Bushaltestelle – ein völlig sinnloses Ableben, nur der schrecklich durchschnittlichen Streckenlänge von A nach B geschuldet. Oder worst case: Taxi fahren (X gehörte nicht zu den Menschen, die sich eine Taxifahrt leisten können. Außerdem hatte X erst vor Kurzem gelernt, dass nur Taxis mit leuchtendem Schriftzug Fahrgäste aufnehmen und empfand sich daher noch als zu ungeübt, um nun ständig mit Taxi unterwegs zu sein).
Solcherlei Grusel im Kopf und hungrig obendrein, war es nur eine Frage der Zeit, bevor X sich begann, an allem und jedem zu stören. Regen fiel zwar in Form weniger schwerer Tropfen, dafür aber in unvorhersehbaren Bahnen auf die Wartenden oder wie es X vorkam, nur auf X, was X besonders empfindlich traf, denn bei wenigen Tropfen ist die Schande des Getroffenwerdens größer als in einem richtigen Schauer, wo nunmal alle nass werden, ja überhaupt das Wetter, X fühlte sich ganz klar im Recht, vom Wetter beleidigt zu sein, als wäre das Wetter nicht eine völlig gleichgültige Entität. Ein Hauseingang bot Schutz, doch intuitiv wusste X aus Erfahrung, dass nun ständig Menschen in genau dieses Haus hinein und genau aus diesem Haus heraus wollen würden, und fragte sich, als genau das dann auch geschah, ob X‘s Wahrnehmung an dieser Stelle korrekt sei. X dachte im Allgemeinen gerne logisch, was im hungrigen Warten sich schwierig gestaltete. Dennoch, dachte X, würde ich jetzt eine Professorin der Mathematik fragen, wie wahrscheinlich es ist, dass, wenn ich mich um 21 Uhr für 15 Minuten in einen Hauseingang stelle, ich dort auf mehrere Hausbewohner_innen treffe, die ins Haus oder nach draußen wollen, was würde sie antworten?
Eine busförmige Silhouette rief X aus diesen kümmerlichen Überlegungen und regte gleichzeitig Hoffnung. Dass es sich tatsächlich um einen Bus handelte, war schnell klar. Doch irgendetwas war faul, der Bus trug keine Aufschrift und wirkte geradezu, nein war vollkommen schwarz, von vorne bis hinten schwarz. So etwas hatte X noch nie gesehen. Der Bus fuhr „hämisch“ (X) an X vorüber und im Vorüberbrausen wurde X vieler tanzender Leute und lauter Techno-Musik gewahr, dazu gab es offenbar eine Art Licht-Show, und all das in diesem schwarzen Bus!
X spuckte vor Ekel fast aus, ja, Ekel vor Menschen, die in Autos und Bussen sich umherfahren lassen, nur um Party zu machen, verbieten müsste man das, überhaupt sollte ein Automobil ausschließlich den Zweck haben, von A nach B zu kommen, das meinte X ganz ernst, die Straßen sind überfüllt genug, mehr Autos bedeutet mehr Risiko, mehr Unfälle, X dachte sich geradezu in Rage, es kam X wieder das Bild im Bus tanzender Körper vor Augen, was fällt denen überhaupt ein, auf so oberflächliche Weise Spaß zu haben, während andere Leute auf Busse und Pizzen warten müssen, nichts als skrupellos wirkte dieser Spaß auf X.
X hielt kurz inne und rief sich die gute Laune in Erinnerung, die X vor dem Warten auf den Bus überraschend bei sich festgestellt hatte. Wie schnell war X von einem strahlenden, lebensfreudigen Menschen zu einem mürrischen, beinahe lustfeindlichen geworden! Gut, den Discobus als Teil des Zeitgeistes zu akzeptieren, dazu konnte sich X auch nach erheblicher Selbstreflexion nicht durchringen, nein, der Discobus verkörpert alles, was falsch und schlecht ist in dieser Welt, nach wie vor, dessen blieb X sich treu, aber doch war erstaunlich, dass das hungrige Warten im Regen oder Sozialtreffpunkt Hauseingang schon ausreichte, um allen Anderen ebenfalls das Recht auf Spaß und Rausch abzusprechen. Nun, X war nicht Tolstoi, also verzieh X großmütig den Tanzenden und Lächelnden um X herum und überlegte, welcher Teil des ersehnten Komforts, zu dem X der immer noch fällige Bus transportieren sollte, sich bereits jetzt herbeiführen ließe. X erinnerte sich, dass für alle Fälle in X‘s Tasche ein Brötchen sich befand – die Verdrängung des Hungers war also möglich! X kam durch logisches Denken zu dem Schluss, dass die beste aller möglichen Handlungen darin bestehe, das Brötchen zu verspeisen, und schritt zur Tat. Sofort nach dem letzten Bissen kam der Bus. In X stellte sich ein „alles wird gut“-Gefühl ein, als X einstieg.
Doch innen stürzten sich die restlichen Ex-Wartenden sofort auf alle freien Sitzplätze wie die Fliegen auf einen Kuhfladen, so dass X zunächst zum Stehen verdammt war. Das gute Gefühl erhielt einen schnellen Dämpfer, doch, dachte sich X, nach der nächsten Haltestelle würde das alles bestimmt anders aussehen. Den in X emporkriechenden Zorn unterbrach ein Ereignis am Horizont der Frontscheibenaussicht; dort war ein anderer Bus derselben Linie zu sehen, der gerade von dem Bus, in dem X sich befand, eingeholt wurde, und das nach nicht einmal einer Haltestelle. X ratterte los und konnte es sich einfach nicht erklären. Die Logik stellte X zwei Szenarien zur Auswahl: Entweder wurde der vorherige Bus durch irgendein sehr spektakuläres Ereignis seit nunmehr 20 Minuten an der Weiterfahrt gehindert (von einem solchen Ereignis fehlte jede Spur) oder X war zuvor so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass X die Ankunft und Abfahrt ebendieses Busses, auf den X vorgeblich mit Leib und Seele gewartet hatte, einfach komplett entgangen war. Letzteres Szenario war natürlich sehr viel wahrscheinlicher, zumal es auch erklärte, weshalb weder Haltestelle noch Bus am Ende überfüllt gewesen waren, ein Umstand, der sogar X aufgefallen war. X, ganz und gar Zögling des logischen Denkens, entschied sich für das spektakuläre Ereignis, denn die Logik, so X, sagte zwar, dass das wahrscheinlichste Szenario wahrscheinlich richtig ist, aber halt auch nur wahrscheinlich.
Als X gerade damit fertig war, sich darüber zu amüsieren, wie X die Logik mit eigenen Waffen geschlagen hatte, brachte die erste Haltestelle nun die ersehnten Änderungen in der Passagier_innenschaft und X bekam einen Sitzplatz – endlich! Doch der nächste Störfaktor ließ nicht lange auf sich warten und kam in Gestalt eines ältlichen Mannes, der selbst allerdings überhaupt keine Ansprüche stellte. Nicht so eine Unperson in Sichtweite von X, die X anwies, den Platz doch jenem ältlichen Mann zu überlassen: „Jetzt bieten Sie doch schon dem ältlichen Mann da Ihren Platz an! Sie sind doch noch jung!“, kläffte sie alternativlos. Doch X hatte schon zu viele Schwierigkeiten durchlebt, um davon beeindruckt zu sein: „Den Teufel werde ich tun!“, polterte X, „Sie wissen nicht, wie ich mich gerade fühle, ich könnte schwer krank sein oder am Rande eines Burnouts! Viele Situationen sind möglich, in denen mir dieser Platz fairerweise zugeteilt werden sollte statt diesem ältlichen Mann da, und nur weil Sie mich für jung halten, ist für Sie der Fall klar, o nein! Zuschreibungen! Allesamt Zuschreibungen! Auch ich kann ein Wrack sein! Diesen Platz kriegt ihr nur über meine Leiche!“
X starrte kurz in die schon lange wieder unbeteiligten Gesichter, bemerkte, dass sowohl die freche Person als auch der ältliche Mann längst ausgestiegen waren und verließ den Bus an der nächsten Station ausgeruht und mit einem guten Gefühl. Nicht „ich könnte die ganze Welt umarmen“ und nicht „der Discobus ist ein tatsächlich existierender Sachverhalt“, aber ein gutes Gefühl nichtsdestotrotz.

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