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31 May 2016
das große Grillmöbel-Geständnis

Das Leben als uns allen gleichermaßen zustoßendes Phänomen aus einer nicht von emotionalem Wirrsal begleiteten Perspektive zu sehen ist mitunter schwierig: Ich bin ein ich (so weit, so gut) und bin hier und es gibt etwa 10⁸ mal mehr Sachen, die ich gerne erleben würde als der Dinge sind, die mir zu erleben die Möglichkeit gegeben ist, denn ich habe nur 120 - x Jahre dafür Zeit und das Design des Menschen ist auf jeden Fall nicht so intelligent, dass es etwa einen Mechanismus in mir gäbe, der mich mit diesem Missverhältnis klarkommen ließe. Oh nein, vielmehr wird alles mögliche produziert, zB das Barbie-Traumhaus, worauf ich vielleicht ursprünglich garnicht gekommen wäre, aber nun doch unbedingt brauche; allerdings gilt diese Argumentationskette für viele auch weniger blödsinnige Dinge (zB Bücher) und die Grenze zu ziehen ist willkürlich (ich ziehe sie spätestens bei skifahren in der Wüste). Ich habe also nur die Wahl, genügsam zu werden („Es gibt doch auch in nächster Nähe genug Sehenswürdigkeiten.“), selbstbetrügend („Ich mache eine Weltreise.“) oder wahnsinnig („Sie haben mich richtig verstanden, es ist mein Ziel, jeden einzelnen Quadratmeter dieses Planeten zu betreten.“) oder halt eben nicht damit klarzukommen, womit es wahrscheinlich enden wird. Das Gute daran ist, dass sich yolo oder irgendwelche crazy Youtube-Challenges aus einer solchen Perspektive leichter als das erkennen lassen, was sie sind, nämlich eine einzige überdimensionale midlife crisis, was oben genanntes herrlich illustriert. Ich begebe mich jetzt weg von der Verhöhnung der Allgemeinheit hin zu dem Thema, um das es nun eigentlich gehen soll und das sollte ursprünglich Gratwanderung heißen, heißt jetzt aber Herr Gesangsverein oder warum reaktionär das neue konservativ ist (auf deutsch müssen Texte/Bücher ja immer diese schauerlichen mit „oder“ angeschlossenen Unterschriften haben, so wie Filme und Serien immer einen möglichst bekloppten mit Bindestrich angeschlossenen Untertitel, mal ernsthaft, wer will einen Film sehen, der „Hot Fuzz – Zwei abgewichste Profis“ heißt, obwohl er auch einfach „Hot Fuzz“ heißen könnte oder von mir aus auch „Der Polizist in dem verschworenen Dorf, der am Ende überlebt“, Hauptsache nicht „Hot Fuzz – Zwei abgewichste Profis“. Dass ich erfahren habe, wie gut dieser Film ist, ist reiner Zufall, wie auch sonst? Es folgt ein schon lange überfälliger Schmähpost über die deutsche Bearbeitung internationaler Medienproduktionen, versprochen).
Wie alle wissen, ist dies ein linksradikaler Blog (ein paar gute Ideen zu politischer Selbstbezeichnung gibt es hier ab Seite 5) und das war früher einfacher, wie ja auch früher alles besser war. Natürlich war früher nicht alles besser. Aber genauso natürlich war früher nicht alles schlechter und da fängt er an, mein neuentdeckter Konservatismus. Als Anhängerin dialektischer Theorie kann ich dem Fortschritt (d.i. technischen, ansonsten gibt es wenig) nicht hörig sein und sehe daher, wie die Fülle an Bildschirmen und sonstiger Technik Gefahren birgt, ebenso die Skrupellosigkeit von Vermarktung, die extremen Ausuferungen in den sozialen Medien (kein Beispiel nötig, siehe beliebiges Youtube-Video) oder das Weichkauen wichtiger Themen durch Fernsehkitsch, möge er auch unterhaltsam sein. Und gleichzeitig habe ich in mir eine große Hemmung, derartiges auszusprechen, kam es doch meiner Wahrnehmung nach lange Zeit vor allem den Bürgerlichen zu, den neuen Technologien gegenüber skeptisch zu sein und Kinder vor den Gefahren der Bildschirme zu warnen.
Dann gestern Nacht superlaut Techno aus allen Richtungen des Hauses, wenn ich eigentlich schlafen will und muss. Aber gehe ich jetzt da hin und teile den Ravern um mich herum mit, dass laute Musik nach 22 Uhr illegal ist? Mit Sicherheit nicht. Und trotzdem ist es scheiße, wenn das nächtelang so geht, weil rücksichtslos, da hilft alle Spießerfeindlichkeit nichts.
Dann: Ich finde (zB) Mundarten irgendwie bewahrenswert, weil ich so gut wie alles, was sich auf natürliche Weise entwickelt hat auf dieser Welt, bewahrenswert finde, nicht, damit alles gleich bleibt, sondern aus historischer Neugier, aus Interesse an den Abstrusitäten des Zusammenlebens, aus Voyeurismus des Menschlichen. Die einzige Entität, mit der ich dieses Interesse teile, ist der (meist) ultrareaktionäre Heimatverein.
Dann: Ich lese irgendwas, was in einer Zeit spielt, die anders ist als diese Zeit, zB zwischen den Kriegen oder auch aus der Antike, und romantisiere ins Unendliche, mir kommt es vor, als wären die beschriebenen Menschen viel näher an allem dran, was Leben und Menschsein definiert, als wir es heute je sein könnten (ausgenommen Leute, die heute ähnlich leben, was es möglicherweise gibt). Ich habe den Eindruck, dass sich heute die meisten Menschen mit vollkommen irrelevanten Dingen ihre Zeit verschwenden, diese oben genannte beschränkte Lebenszeit also nutzen, um sich Strandfotos von berühmten Menschen in Zeitschriften anzusehen oder Fernsehwerbung zu konsumieren. Oder dieses SCHAUERLICHE Spiel auf dem Smartphone spielen, wo so bunte Bälle Reihen bilden und das einfach ÜBERHAUPT KEINE Existenzberechtigung hat. Ich hoffe, die Großbuchstaben verdeutlichen, wie wütend mich dieses „Spiel“ (unverdiente Bezeichnung) macht.
Jetzt ist mir klar, dass alle Zeiten ihre Dämonen hatten, Krankheiten und Kriege allzeit gegenwärtig waren, ebenso totalitäre Systeme an der Tagesordnung; und dennoch macht es doch einen Unterschied, inwieweit sich Warlords, Unterdrücker und Forscher in deren Auftrag technologischer Errungenschaften bedienen können; die Reichweite der Technik, die heute pausenlos von Geheimdiensten, (para-)militärischen Mördern und Wirtschaftskonzernen missbraucht wird, oder halt eben von den Regierenden zum Einlullen der Massen, ist doch definitiv ungleich höher als sie es vor 100 oder 1000 Jahren in vergleichbaren Situationen sein konnte. Weshalb ich es schwierig finde, in dieser Zeit, in der wir leben, einerseits keine Paranoia zu entwickeln; scheint sie doch nie so angebracht wie jetzt, und andererseits keine Sehnsucht nach einem „einfacheren“ Leben, wo das, was ich tue, auch irgendwas mit meinen menschlichen Bedürfnissen zu tun hat.
Und genau das ist der Grund, weshalb ich immer öfter mich gezwungen sehe, Positionen anzunehmen, die zivilisationskritisch und letztlich konservativ sind, und weshalb ich eigentlich lieber und öfter das Wort „reaktionär“ benutzen möchte für die, nun ja, Reaktionären auf der Welt. Die also zu früheren Formen der Unterdrückung zurückmöchten, während ich von heutigen Formen der Unterdrückung wegmöchte und dabei zurück in eine punktuell freiere Vergangenheit, die aber auch in der Zukunft liegen kann, womit das Wort „konservativ“ wieder ein bisschen fehl am Platz wäre…
Faden verloren? Ich auch. Fest steht: Ich will nicht, dass mein Leben wegen der vielen Querfrontler irgendwann ein einziges endloses Positionieren wird, aber Männergesangsverein will ich auch nicht.

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