19 Aug 2019
Neues vom Nudeltier
Alle tun es die ganze Zeit. Zumindest ist davon auszugehen. So spricht man auch darüber: „es tun“. Alle wissen es, aber kaum jemand redet darüber. Ein Paradox einer aufgeklärten Gesellschaft, etwas, was zentraler Bestandteil fast jeder Existenz ist, mehr oder weniger zu tabuisieren.
Und so müssen sich immer wieder Gegenbewegungen zur Mehrheitsgesellschaft dafür einsetzen, dass das Thema doch auf den Tisch kommt. Schließlich ist bekannt und plausibel, dass jener Widerspruch zwischen seinem offensichtlichen Stellenwert einerseits und seiner Unterrepräsentiertheit andererseits gravierende einzel- und massenpsychologische Folgen haben kann. Viele reagieren darauf, indem sie die Rahmenbedingungen, innerhalb deren sie „es tun“, zu verändern oder reformieren versuchen. Sie nutzen dazu die neuen Technologien, die ihnen unter Anderem eine größere Vernetzung ermöglichen. Ob mit Erfolg, wird sich erst mittelfristig zeigen.
Andere halten das Thema zwar aus der Öffentlichkeit heraus, aber tauschen sich immerhin mit ihrem_ihrer Lebenspartner_in darüber aus, der_die an dieser Stelle auch vor allem betroffen ist und in den meisten Fällen ein reziprokes Bedürfnis verspüren wird.
In der größeren Öffentlichkeit funktioniert die Tabuisierung anders: Anstatt eines komplexen inhaltlichen Diskurses arbeiten sich die Herrschenden an gesetzgeberischen Randerscheinungen ab. Zwar kommt es immer wieder zum einen oder anderen Skandal, aber denjenigen, die hinter die Fassaden zu blicken vermögen, sollte klar sein, dass diese gelegentlichen Ausbrüche aus der glatten Politikmaschinerie vorrangig dazu dienen, dass das ideologische Fundament unangetastet bleibt. Und jenes ist hierbei aufgrund einer langen Historie von Repression fest verankert und wirkt bis in jeden einzelnen Kopf hinein. Schuld- oder Ausschlussgefühle, weil man „es“ weniger „tut“ als eigentlich „vorgesehen“, obwohl es hierbei klar um individuell verschiedene Bedürfnisse geht und eben nicht um eine gesellschaftliche Norm. Dass aus diesem Missverhältnis auch gesellschaftliche Gewalt und Ächtung entsteht, versteht sich von selbst.
Und so tun es alle die ganze Zeit, davon ist auszugehen, und obwohl kaum darüber gesprochen wird, entfaltet das Thema eine kaum zu überschätzende Wirkmächtigkeit. Was tun?
Über eins stolpert man bei der Analyse: Während bei ähnlichen gesellschaftlichen Phänomenen wie zB Sexualität das Tabu seinen Widerpart in der ständigen Verarbeitung innerhalb der Kulturindustrie findet, steht es um unseren Gegenstand wesentlich schlechter. Bis auf einzelne Ausnahmen wie die Punk-Band The Baboon Show oder einige Klassiker wie Paul Lafargue wird Arbeit so gut wie nirgends in den Fokus gerückt, was bemerkenswert ist, lässt die hyperkommerzielle Popkultur doch normalerweise keine Gelegenheit aus, das zu verwerten und zu verwässern, was alle umtreibt. Und es tun ja bekanntlich alle die ganze Zeit. Martin Seeliger hat Recht: Es muss ein Trend geschaffen werden, den gesellschaftlichen Topos Arbeit kreativ zu „verarbeiten“. Wo, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht hier? Wann, wenn nicht wir? Dieser Text sei ein Anfang, wie – endlich – offen über Arbeit gesprochen werden kann.