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10 Jun 2017
Bomben an Goethes Tourbus

Autobahn, weil Hitler, ohnehin schon eine ewig deutsche Erfahrung. Dazu ständig sinnlose Regional-Informationen, auf die wahrscheinlich auch nur Deutsche reinfallen können: „Ach Schatz, sieh mal an, Töpferstadt Bürgel!“ - „Da könnte man ja mal hinfahren!“
Dann fahren sie hin, Johann Waschnewski holt sie am Bahnhof ab und zeigt ihnen all die Sehenswürdigkeiten wie das Keramikmuseum und die Stadtkirche. Die Rolle Bürgels im NS gehört für Wikipedia zur Geschichte der Stadt, auf der Website der Stadt ist dazu absolut nichts zu finden. Die historischen Episoden enden irgendwo vor den beiden Weltkriegen und beginnen wieder im Wirtschaftswunderdeutschland. Jetzt hat ein Weltkrieg, vor allem ein deutschgeführter, es nun einmal so an sich, dass er auch bis in eine Stadt wie, sagen wir, Bürgel dringt. Die Frage ist, ob es zu einem besseren Image beiträgt, so zu tun, als wäre in Bürgel immer alles gut gewesen, wenn es offensichtlich nicht stimmt (weil das in der Geschichte der Menschheit nun einmal nicht vorkommt) oder ob es nicht auch interessant wäre, eine Stadt oder Region in all ihrer nun mal realen Dialektik zu bewerben. Bürgel ist hier ein völlig zufälliges Beispiel, aber es sei klargestellt, dass, wer in Deutschland auf diese Weise nach Geschichtsumdeutung sucht, stets auf Anhieb fündig werden wird. Doch zurück zur alldeutschen Autobahn. Wird Heimat- und Volksgefühl mal gerade nicht durch die dümmlichen Infotafeln zu den Städten, an denen die Fahrbahn in ordentlicher Entfernung vorbeiführt, hergestellt, gibt es natürlich noch die Willkommens- und Verabschiedungstafeln der einzelnen Bundesländer, die in einer Art Wettbewerb zu stehen scheinen, wer am Besten totale Sinnentleertheit mit Regionalstolz verkuppeln kann. Ich nenne keine Beispiele (sie sind zu finden, wenn gesucht), nur eins: Sachsen-Anhalt hat sich entschieden, das bekloppte „Land der Frühaufsteher“ zu ersetzen durch – Obacht, es wird tatsächlich noch bekloppter - „Sachsen-Anhalt – Ursprungsland der Reformation“
Dazu ist nicht viel zu sagen, außer vielleicht: Das Sachsen-Anhalt, in das man heute reinfährt auf einer der scheußlichen deutschen Autobahnen, auf die alle stolz sind, weil sie es auf Hitler nicht mehr sein dürfen, dieses Sachsen-Anhalt ist, wenn man größtzügig ist, 70 Jahre alt. Die Reformation fand ihren Anfang vor 500 Jahren – zugegeben – dort, wo jetzt dieses Land mittlerweile willkürlich hinkonstruiert wurde, doch was soll uns das jetzt sagen? Dass das jetzige Sachsen-Anhalt (denn da fahren wir ja hinein in unserem kleinen, schrecklichen Gedankenexperiment) gut ist, weil vor 500 Jahren da irgendwo irgendwas passiert ist, was manche Leute (aus unerklärlichen Gründen) gut finden? Diese Dinge haben doch garnichts miteinander zu tun. Ist Weimar dadurch geeigneter als Aufenthaltsort für mich, weil Goethe und Schiller dort gewirkt haben? Ich frage ernsthaft, denn ich verstehe diese wirren Gedankengebäude nicht mehr.
Unfug, natürlich verstehe ich das, beworben wird allerorts Deutschland und die deutsche Leitkultur und die deutsche Vergangenheit (bis ungefähr zum Ende des 19. Jahrhunderts), weil der deutsche Jetztzustand offenbar einfach nicht zu vermarkten ist. Mal überlegen: Wo in Deutschland wird irgendetwas beworben, was nicht in die Kategorien „Naturerbe“, „Tradition“ oder „abendländische Kultur“ passt? Ich freue mich über Vorschläge, unter allen Einsendungen werden verlost: Eine Eintrittskarte für Schillers Gartenhaus (Jena), ein 5-Euro-Einkaufsgutschein im Schillerkaufhaus (Weimar), eine Eintrittskarte für Goethes Gartenhaus (Weimar) und ein 5-Euro-Gutschein im Goethekaufhaus (Weimar, Slogan: „Kaufen ist Kunst“). Kein Scherz!
Doch zurück zu der Wurzel allen Übels, der Autobahn. Die Autobahn hat ein Imageproblem: Sie produziert Tote. Das passt zwar eigentlich gut zu Deutschland, aber natürlich nicht zu dem beschriebenen verklärten Bild. Die offiziell erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf deutschen Autobahnen ist unendlich, womit Deutschland weltweit fast alleine steht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Tempolimit von 130 oder 140 km/h zu weniger Verkehrstoten führen würde, dazu kommen Umweltvorteile und ein besserer Verkehsfluss, das Verschwinden einer Raserkultur, die nichts, aber auch nichts Postives an sich hat, ein gesteigertes Sicherheitsgefühl für diejenigen, die nur von A nach B wollen, ganz ohne Kick und Selbstwertprobleme, sowie eine geringere Lärm- und Feinstaubbelastung. Das alles ist natürlich kein Argument und so entscheidet sich die deutsche Politik, die relativ einfach es illegal machen könnte, mit über 130 km/h unterwegs zu sein, Millionengelder in moralisierende Werbetafeln zu stecken, die Rasern klarmachen sollen, dass es besser ist, zu leben als zu sterben und nicht so gut, andere Menschen mit in den Tod zu reißen durch Rasen. Hier ein besonders peinliches Beispiel mit regionalen X-Promis. Ich fasse noch einmal zusammen: Diejenigen, die über das beste Mittel und die Macht verfügen, das Problem des Rasens schnell und effizient zu beenden, hängen stattdessen Schilder auf, dass man bitte nicht rasen soll. Niemals wurde besser illustriert, wie der Staat strukturelle Probleme auf die Einzelnen umwälzt. Ein Lehrstück deutschen Staatscharakters. Auch Parallelen zu deutschem Verhalten in höheren Sphären zeichnen sich ab. Das Muster: Irgendwo Schaden anrichten, vorgeben, das Problem zu lösen, es dabei aber immer konstant halten, davon profitieren und dann auch noch Moralapostel spielen. Ob Südeuropas Schuldenkrise, Raser auf der Autobahn oder Erdogan. Die Türkei dreht ab? Geil, denkt sich Deutschland, dann können wir uns ja wieder inszenieren als Hort des Anstands und der Demokratie. Gleichzeitig Deals am Laufen halten. Gibt es einen Bigotterieindex? Jetzt gibt es ihn. Platz 1 – Autobahnrepublik Deutschland.

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