grillmoebel
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30 May 2017
das FLTI-Keglerheim lädt ein zur Muttertagssause

Man stößt ja, wenn man nicht gerade in der hintersten Provinz wohnt, bisweilen auf so Leute, die soundsoviele Tage durchfeiern, dazwischen Upper und Downer je nach Sachlage nehmen und trotzdem ja auch irgendwie zu Geld kommen müssen; manche von denen schreiben dazu Bücher wie dieser Torsun, der mir EGAL ist, oder sie haben in ihren klaren Momenten einfach tatsächlich einen normalen Job, der diese Lebensweise finanziert, was auch irgendwo erstaunlich ist. Darum soll es aber garnicht gehen, eher interessant finde ich, dass eine Existenz mit weniger Drogen- und Partykonsum schnell langweilig wirkt, wenn man solche Berichte liest; klar: da schreibt einer von nachts auf 3 verschiedenen Drogen in Berlin rumlaufen und dabei die krassesten Leute treffen und dann den Rummelsburger See mit dem angesagten Club Rummels-Bucht verwechseln und dann mit Vergiftungserscheinungen ins angesagteste Krankenhaus Berlins, yeah, und ich denke, ah was hab ich da gemacht? Wahrscheinlich gelesen oder eine Limonade getrunken, wenn ich überhaupt wach war. Und dann denke ich daran, was X über das letztes Wochenende erzählt hat und frage mich wirklich, wieso irgendwem die Zeit, in der wir leben, noch nicht absurd und komplex und intensiv genug ist; vielleicht sollte ich doch zu den Konservativen gehen, aber denen bin ich ja mit meinen Sympathien für den Morgenthauplan auch wieder zu krass, naja, jedenfalls hat das letzte Wochenende von X jegliche Zweifel ausgeräumt. X ist ja sehr ähnlich drauf wie ich, das reinste Alter Ego sozusagen, das ist der Grund, weshalb ich mich so gut in X reinversetzen kann.


Also jedenfalls war X auf Familienurlaub in einer fremden Stadt. Dort war alles anders, das Wetter war anders, die Leute waren anders, die Straßenbahninfrastruktur enthielt zwar dieselben schraffierten Betonplatten in den Ausstiegsbereichen, war aber trotzdem anders, alles anders. X war dankbar, dass diese überfordernde Andersartigkeit von den Designern der fremden Stadt bedacht worden war, die, um die allgemeine Wohlfühlatmosphäre zu erhöhen, überall in der Stadt Geschäfte installiert hatten, die X und warhrscheinlich den meisten ankommenden Leuten bekannt waren, H&M, Rewe und Wiener Feinbäckerei – X atmete erleichtert auf, aber auch mit marginaler Verwirrung, denn X war doch garnicht in Wien, sondern in der
e h e m a l i g e n D-D-R. Um zum Festivalgelände zu gelangen, musste X dann noch einmal am Hauptbahnhof umsteigen. Die Anzeigetafeln der deutschen (jawohl, kleingeschrieben, denn die deutsche Bahn braucht ihr Deutschsein nun wirklich nicht mehr durch Großschreibung zu betonen) Bahn zeigten aber nichts an. X musste also zum Äußersten gehen und Kontakt zu Angestellten der deutschen Bahn herstellen. Immerhin mit Erfolg: „Ja, Sie haben den Zug gerade verpasst, Sie Pfeife, gehen Sie zur Strafe auf Gleis 7 und warten Sie dort 40 Minuten auf den nächsten Zug.“
40 Minuten warten für 4 Minuten Fahrt, das erschien X irgendwie angemessen. Später erfuhr X übrigens, dass ein globaler Hackerangriff für die Anzeigetafeln verantwortlich gewesen war. Wenn X das gewusst hätte, hätte X sicher Angst gehabt. Vielleicht hatten die Hacker auch das Zugklo gehackt, wo nämlich jemand drin war (und beschäftigt), obwohl nicht abgeschlossen war, was X sehr peinlich berührte (Doof eigentlich, war ja gar nicht die Schuld von X!). Als X mitsamt Familie dann auf dem abgelegenen Abenteuerspielplatz angekommen war, noch völlig aufgewühlt von der langen Suche, führte da eine Treppe in den Untergrund. X war neugierig und nutzte die Zeit, während das Kind mit Steinen spielte, um die Unterwelt des Spielplatzes zu erkunden. Nach einiger Zeit fand X sich in einem Schacht wieder, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien. Doch halt – eine Art Kettennetz hing (zufällig?) von oben in den Schacht hinein, bekletterbar war es auch und X sah bereits Licht am Ende der Ketten. Ein stilisierter Tipi nahm X, nunmehr auf Meeresspiegelhöhe, in Empfang und X war endlich auf dem Festival angekommen. Unten im Tal floss einer dieser Flüsse, die alle ähnlich heißen, an der Bahnstrecke entlang (jawohl! Der Fluss floss an der Bahnstrecke entlang, nicht die Bahnstrecke führte am Fluss entlang, Natur gehorcht dem Menschen, nicht umgekehrt!1!!) und verlieh der ganzen Landschaft eine Rheintalhaftigkeit, die X so weit im Osten wie ein Blitzschlag traf. In der alten Fabriketage war das Festival bereits in vollem Gange, Dutzende von schwarzuniformierten Betrunkenen malten gerade ein Auto blau-weiß an, als X ankam, und schrieben „Polizei“ darauf. Wieso, sollte sich X später erschließen, zuerst brauchte X einen Spaziergang. Der ausgeschriebene Fußweg brachte X zuerst an einer Art Galerie entlang durch das Gewerbegebiet, dann plötzlich war es dunkel und der Weg wurde eng und steil, bis X an einen kleinen Fluss kam (nicht der, der an der Bahnstrecke gehorsam entlangfließt!). Diesem folgte X bis zu einem Tunnel. Ein anderer Elternteil rief X zu: „Da geht‘s zur Kanalisation!“, doch X hörte nicht auf die Warnung, so es eine war, und stellte nach einigen hundert Metern Düsternis fest, dass X auf dem Gelände des städtischen Krankenhauses angekommen war. Da X da aber garnicht hin wollte, ging X zurück zur Flussmündung, wo der Rest der Familie schon auf X wartete – das Kind war bereit für den Mittagsschlaf und man wollte noch den jüdischen Friedhof besichtigen. X gönnte sich ein mäßiges Speiseeis für einen Euro und 35 Eurocent und beschloss, sich nun die erste Band namens „Chloroform“ anzusehen, musste allerdings auf dem Weg zum Konzertsaal eine unvorhergesehene Pause einlegen, weil das zuvor bemalte Auto nun zum Zerstören freigegeben wurde. Ein wütender Mob hatte scheinbar keine Probleme damit, den X durchaus nicht fremden Hass auf „die Polizei“ in dem bereitgestellten Gegenstand kulminieren zu lassen und X schaffte es noch knapp, ein Autoradio und zwei Zündkerzen zu erbeuten, die X vorhatte, auf dem Flohmarkt des Gemeinschaftsgartens gegen ein Geschenk für das Kind einzutauschen, ja das wird super, dachte sich X. X verpasste „Chloroform“ und auch „Quengelware“ und „Public Enema No.1“, weil es interessanter war, den Leuten beim Autozerstören zuzusehen. Es gab auch ein Brecheisen; X hatte noch nie zuvor eins gesehen, ein besonderer Moment im Leben eines jeden Menschen. Das Kind schlief jetzt und X nutzte die Pause, um in der Volxbibel zu lesen, was X sehr amüsierte. Das war auch wichtig, denn X musste vor dem Auftritt entspannt sein. Die Emocrust-Royalpower-Trueviolence-Hardcoreband, in der X zuvor singende Säge und nun -völlig spontan- das Brecheisen spielen durfte, war nämlich gleich nach der Adult Oriented Punk Band „Duzi Duzi“ an der Reihe. Eine Nebelmaschine vernebelte das Konzert, was für alle Beteiligten wahrscheinlich besser war. Die Brechstange hielt die kompletten 10 Minuten des Sets durch und X war überwältigt von den positiven Rückmeldungen des Publikums. Über den Wald kam nun der Abend und X spürte das Bedürfnis, sich hinzulegen. Zum Schlafen gab es Matratzen, wo man zwar Krätze von kriegt, aber verdammt gemütlich waren sie immerhin, das musste X zugeben. Da das Festival sich aber noch bis tief in die Nacht hinzog, beschloss X, erstmal mit dem Kind zur Bäckerei „Dreißig“ zu gehen, ein komischer Name, den X sich später so erklärte, dass X für die zu einem Standardfrühstück benötigten Frühstückswaren ungefähr 30 Euro hatte hinlegen müssen. Naja, andere Städte, andere Preise, zitierte X die Bäckereiangestellte später im Kopf, die Gage war zwar damit passé, aber immerhin gab es Essen. X hatte nicht mit der Bandverpflegung in Form veganer Soljanka gerechnet, doch X war ja auch bereits auf dem Spielplatz, wo X andere Eltern belauschte. Eine Mutter sagte gerade extrem intense zu ihrem Kind: „Komm mal zur Mama!“ (X blickte sich um), dann: „Die Mama will dir was zeigen!“ (X blickte sich heftiger um, wo denn jene erwähnte Mama nun sei), dann schließlich stolperte sie mit dem Kind: „Oh entschuldige, das war der Fehler der Mama, JA DAS WAR DER FEHLER DER MAMA!“, woraufhin X sie nun endlich zur Rede stellte: „Ich bin ja auch Mutter, aber warum sprechen Sie die ganze Zeit in der dritten Person von sich?“
„Kinder verstehen Ichunddu noch nicht“, antwortete ein auf den Autokadaver eindreschender Punk, „aber ihr macht geile Musik!“
X glaubte das nicht, also das mit dem Ichunddu und den Kindern und fragte sich, wie zum Geier die die erste und zweite Person denn lernen sollen, wenn alle die ganze Zeit in der dritten mit ihnen reden, aber X war zu müde, um auf dem Spielplatz oder dem Festival zu bleiben und fuhr spontan alleine zurück nach Hause. Als X dort ankam, warf ein Mitelternteil gerade eine Bananenschale vor die Füße vorbeigehender Teenager. Das hätte ins Auge gehen können, aber der Erfolg blieb aus. Einzig X war zum ersten Mal amüsiert, seit X aus der fremden Stadt zurück war. Schlaf war nun kein Thema mehr und X besuchte einen Brunch. Das Essen wurde als sehr gut beworben, im- und explizit, und war ziemlich beschissen. „Warum ist das Essen so schlecht?“, wunderte sich X. „Vielleicht kann ich das erklären…“, mischte sich Xens Sitznachbar ein: „Ich war nämlich gestern auf einem Konzert. Der Künstler ist eigentlich kein Musiker, sondern Neurologe und hat ein nie zuvor dagewesenes Instrument erschaffen. Er hat ein Stück Haut von seinem Arm entnommen und es im Labor kultiviert. Dann nutzte er sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen, um die Hautzellen in Gehirnzellen umzuwandeln. Nach ein paar Tagen begonnen die Neuronen, ein biologisches Netzwerk zu formen. Dabei produzieren sie, ähnlich wie ein echtes Gehirn, Daten - also sie interagieren miteinander über elektronische Signale. Elektroden können diese Signale aufnehmen und gleichzeitig können Sie die Neuronen stimulieren. Das heißt, wir können Informationen zu den Neuronen senden über die Elektroden. Im Grunde hat der Wissenschaftler also eine Schnittstelle entwickelt, um mit den Neuronen hin und her zu kommunizieren. Im Wesentlichen kontrollieren die Neuronen nun Synthesizer über Aktionspotentiale, also elektrische Signale. Die werden dann verstärkt und zu den analogen modularen Synthesizer als geregelte Spannungen gesendet. Menschliche Musiker begleiten das. Was da passiert ist, dass die Klänge dieser Musiker über die Schnittstelle in die Neuronen strömen und sie stimulieren. Und dann kontrollieren die Neuronen die Synthesizer und spielen sie. Auf diese Weise erhalten wir eine Feedback-Schleife zwischen den Musikern und dem künstlichen Gehirn, zwischen dem Menschlichen und dem Nichtmenschlichen und kreieren eine post-menschliche, improvisierte Performance.
Ist das nicht großartig?“
„Durchaus“, entgegnete X und schlenderte nach Hause, nüchtern, aber in einem Wahnsinn aus Hackerangriffen, Kinderspielplatz, sinnloser Gewalt, freundlichem Miteinander, berechtigter Kritik, Leuten auf dem Klo, subkultureller Nischen und nun auch noch gezüchteten Gehirnen, die Musik machen.
Fazit: Wem diese Zeiten nicht intensiv und absurd genug sind, der_die möge, anstatt bewusstseinsverändernde Drogen zu konsumieren, doch in Zukunft einfach ein Polizeiauto mit einem Brecheisen bearbeiten.

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