10 Sep 2019
Hautfetzen
Ich war gerade auf dem Weg vom Briefmarkengeschäft nach Hause, als plötzlich der Humanwissenschaft der Durchbruch gelang. Wie zu erwarten, führte dies rasant zu einer Reihe kurioser Reaktionen: Beispielsweise konnte ich um mich herum ein gesteigertes Interesse der Menschen füreinander wahrnehmen, das in einer Zeit vor dieser bahnbrechenden Entwicklung nicht gerade glaubhaft gewesen wäre. Doch jetzt predigten augenblicklich alle einträchtig Wissenschaft und menschlichen Geist, dass es in den Straßen nur so tönte. Auch oder gerade diejenigen, die der Humanwissenschaft und ihren Unterkategorien im Grunde immer feind gewesen waren, vermochten nicht, ihre Begeisterung in Zaum zu halten ob dieses Durchbruchs, der überdies für alle verständlich in den Extrablättern der Zeitungen dargestellt war. Man hatte nicht weniger als den primären Sachverhalt entdeckt, der einen überwiegend gesunden von einem überwiegend kranken Menschen unterschied. Es ging hierbei nicht um die Heilung der Volkskrankheiten oder den Triumph über den Alterungsprozess, wie man hätte glauben können beim Anblick der tobenden und feiernden Massen.
Und doch versprach die Eilmeldung einen erheblichen Gewinn für das Menschsein, denn nun wusste man, was dafür verantwortlich war, dass die einen immer wieder zu einer kranken Verfassung neigten, gefangen waren in einem Irrkreis aus Leiden und Nichterholen, während die anderen sich einer so genannten robusten Gesundheit erfreuten, der auch beispielsweise der erhöhte Konsum von Genussmitteln keinen Abbruch zu tun schien.
War dies nun das Rätsel, auf dessen Lösung die Menschheit so lange gewartet hatte, fragte ich mich, den schwelgenden Massen skeptisch gesinnt, nachdem ich mir die Neuigkeit gänzlich zueigen gemacht hatte. War dieser Durchbruch der „lang ersehnte“, von dem man immer wieder in Kenntnis geriet? Sicher nicht. Und doch ging von der wissenschaftlich getroffenen Erkenntnis ein Zauber aus.
Zunächst war es der Wissenschaft nach langem Kampfe gelungen, ihren üblen Leumund von Exklusivität auf der einen und Geldgier auf der anderen Seite loszuwerden, indem sie hier zweifelsfrei etwas präsentierte, was jeden einzelnen Menschen betraf, ohne dass gleichzeitig Medikamente notwendig waren oder das Verständnis der Sache selbst viel Intelligenz erforderte.
Das musste ich zugeben. Auch war mir klar, dass nun alles sich verändern werde: Es gab überhaupt keine andere Möglichkeit. Und doch fiel es mir aus irgendeinem Grund nicht so leicht wie meinen Zeitgenossen, die neue Erkenntnis anzunehmen, für mich selbst zu akzeptieren, zur neuen Lebensmaxime zu machen.
Es hatte dies seinen Grund in dem einfachen Sachverhalt, dass die gewonnene Erkenntnis meiner persönlichen Erfahrung widersprach. Und das, obwohl exakt jenes von den Vorbringern des neuen Wissens ausgeschlossen worden war. Lange überlegte ich, zerbrach mir sprichwörtlich den Kopf darüber, wie dies sein könne. Doch ich hatte Logik gelernt und kam wieder und wieder zum selben Schluss: Die Humanwissenschaft musste sich irren!
Ich wusste, dass ich damit einen langen und steinigen Weg eingeschlagen hatte. Je länger ich die vor Freude und Wissenschaftsglaube völlig entstellten Gesichter sah, die diese Entwicklung gleichsam als Tod Gottes feierten, was eine über Jahrhunderte und -tausende ersehnte Erleichterung mit sich bringen musste, desto schwieriger erschien es mir, etwas anzufechten, was eine solche Erhebung des Menschengeschlechtes ermöglichte.
Ich beschloss daher, zur Quelle zu gehen, und besorgte mir noch am selben Tag die Adresse eines Hauptverantwortlichen. Dieser lebte auf der Insel Nowaja Semlja und dort suchte ich ihn auf. Nach einem kurzen Austausch von Höflichkeiten schilderte ich ihm in aller Ausführlichkeit meine Bedenken. Der Wissenschaftler hörte mir konzentriert zu; man merkte, wie sehr ihm die Sache am Herzen lag.
Als ich geendet hatte, erhob er sich in einer langsamen Bewegung, legte eine Hand auf meine Schulter und eröffnete mir, dass er mir glaube, aber die Ergebnisse seiner Forschung leider makellos seien.
Freilich hatte ich für diesen Fall vorgesorgt: Noch kurz zuvor hatte ich zuhause ein Filmdokument angefertigt und mitgenommen, welches meine Aussagen unzweifelhaft bewies. Als ich darauf zu sprechen kam, entgegnete er nur lakonisch: „Ich sagte Ihnen doch bereits, dass ich Sie nicht für einen Lügner halte. Ich brauche Ihren Beweis also nicht zu sehen, denn Sie müssen sich hier nicht verteidigen.“
Er machte eine Pause und wirkte, als ob er auf etwas wartete.
Das verunsicherte mich, bis ich plötzlich verstand. Ich weiß nicht, was mich, der ich doch Logik gelernt hatte, bis dahin am Gewahrwerden der offensichtlichen Schlussfolgerung gehindert hatte, doch nun verstand ich und begann, mich in Luft aufzulösen.
Ich sah noch ein dankbares Lächeln in den Augen des Humanwissenschaftlers.