grillmoebel
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21 Apr 2019
The South is too fat to rise again

Jetzt habe ich doch tatsächlich meine Ankündigung vergessen, zwei Konzerte in einem Text abzuhandeln*. Ich möchte das aber nur verkürzt und verzerrt nachholen. Anknüpfen ließe sich gut über das Wesen des Publikums, denn wo ich mir bei Gluecifer etwas mehr Begeisterung herbeigewünscht hätte, durfte ich bei The Dead South (erstmals?) die Erfahrung machen, dass in puncto Enthusiasmus im Zuschauerraum auch ein gegenteiliges Extrem existiert. Ich war für die gesamte Dauer des Konzertes irritiert von den ununterbrochenen Begeisterungsbezeugungen der Menschen um mich herum, die pausenlos schrien, jubelten und sich gleichsam die Haare ausrissen vor Freude.** Was war da los? Ich versuchte, aus der sozialen Zusammensetzung Schlüsse zu ziehen, doch das Publikum fuhr fort, mich zu verwirren durch seine vorbildliche Diversität.
Die aber gleichzeitig verdächtig war. Ich musste abwarten bis zur Performance des bekanntesten Hits der Band, um das Offensichtliche zu sehen: Das Publikum bestand zum größten Teil aus Akteuren des Zeitgeistes, die durch Zufall ein einigermaßen originelles Video auf Youtube konsumiert hatten und nun ihre innersten Wünsche, nicht in einer Welt zu leben, in der die Dinge so ablaufen, wie sie es tun, nämlich nach der Formel Marketing + privilegierte Herkunft + Glück = bürgerliche Vorstellungswelt von Erfolg, zu unterdrücken versuchten, indem sie einen möglichst großen Anteil ihres notwendigen Identifikationsschatzes auf diese vier Musiker projizierten, die ihnen im Grund so fern sind wie nur irgendwas. Diese Leute feierten nicht die Musik oder diejenigen, die sie produzierten, sondern nur sich selbst und die neoliberale Idee der potenziellen Selbstwerdung eines und einer jeden durch Anpassung.
Daher auch die begeisterten Rufe: Wer sich selbst nicht zum Kreischen finden kann, muss eben das Innere veräußern. Es mag wirken wie eine infame Massenunterstellung ohne jegliches Fundament, doch das kann nur feststellen, wer nicht selbst dort war. Es macht sich bemerkbar, ob jemand begeistert ist oder Begeisterung performt, und die hier vorgebrachte Begeisterung ließ mir die Haare zu Berge stehen. Sie hatte, da wir ja in einem deutschen Kontext sprechen, auch eine Erleichterung in sich, endlich wieder in folgsamer Weise jubeln zu dürfen, was in ähnlichen Kontexten in Deutschland durch die Bank zu spüren ist. Doch Youtube ist kein deutsches Produkt,**** und deshalb geht es hier auch ausnahmsweise um andere Perspektiven auf das Problem. Ich lasse deshalb die naheliegende Behauptung, dass diejenigen Deutschen, die nicht Afd oder CdU wählen, ihr Bedürfnis zum Deutschsein***** lediglich anderswohin verschieben, links (hehe) liegen, und gehe dazu über, zu schreiben, dass ich zunächst einen positiven Anteil an dem hier erwähnten Phänomen wahrnahm à la “Wie toll, dass Youtube es möglich macht, dass so viele unterschiedliche Leute zusammen einen Moment von Musik und Lebensfreude teilen”. Doch je länger ich mich in jener Lebensfreude aufhielt, desto größer wurde der Dämpfer, den ich mir sofort verpasst hatte nach diesem ultrapositiven Gedanken. Wenn jetzt jede Band aus jeder Nische und Subkultur potenziell Stadien füllen kann, wohin soll das führen wenn nicht zu einer kulturellen Homogenität? Die dann wiederum mehr das Bedürfnis nach vermeintlich authentischen und originellen Kunstwerken weckt? Die dann allerdings nicht mehr tatsächlich authentisch und originell sein können, weil diese Kategorien in der neuen zeitgeistigen Weise, Musik zu machen, längst zu einer leeren Hülle geworden sind? Es hat auch etwas totalitäres: Bis jetzt musste ein Interesse oder ein Zufall dafür sorgen, dass man auf eine Band gestoßen ist, nun sorgt der kapitalistische Algorithmus dafür, bei dem viele Klicks mehr Klicks generieren.****** Alle können zu allem finden, aber finden vor allem zu dem, was sich den Regeln der Verwertbarkeit am besten unterworfen hat. So wie zu dem Youtube-Hit von The Dead South, den ich hier nicht verlinke, damit es zumindest einer kurzen Recherche bedarf, besagtes Video aufzutreiben.*******
Hier zeigt sich natürlich die grausame Ambivalenz, denn, auch wenn ich nichts lieber täte, kann ich der Band kaum vorwerfen, dass sie hier den bequemen Weg wählt. Das Musikbusiness macht es fast unmöglich, ohne die modernen Formen des Übermarketings auszukommen, und wenn man Geld braucht oder auch nur Spaß haben will, wird man eben den kommerziellen Appellen – zwar mehr oder weniger – aber: folgen.
Ich frage mich wirklich, ob The Dead South ihrem Publikum das abgekauft haben, was da aus dem Zuschauerraum kam. Ich meinte, manchmal einen gewissen Verdruss darüber wahrgenommen zu haben, dass eine eigentlich dramaturgisch wichtige Pause innerhalb des Liedes wieder mal vom Publikum verunmöglicht wurde. Aber vielleicht war es nur mein Wunsch und alles ist noch viel düsterer, als ich dachte. Vielleicht sind “die vier Jungs” von The Dead South kalt berechnende PR-Experten, die nur zufällig auch Instrumente spielen und deshalb auf der Bühne statt an der Börse gelandet sind. Doch das widerspräche sehr meiner Wahrnehmung. Ich witterte Witz, Spontaneität und die Bereitschaft zum Bruch auf der Bühne; stellenweise sogar Unsicherheit und Scham. Die Show war choreografiert, aber nicht künstlich. Viele Stellen wie zB der Anfang eines neuen Songs “the snake man” demonstrierten Spaß am Spiel mit den musikalischen Grenzen und der Hörgewohnheit. Nicht alles war auf Wohlfühlen ausgelegt, das Cello spielte hierbei eine wichtige Rolle. All das schrammte am Publikum allerdings noch nicht einmal vorbei; ein Treffpunkt zwischen den Leuten auf und vor der Bühne war von Anfang an ausgeschlossen.
Aber so ist es in Youtube-Zeiten und die Tatsache, dass ich so lange gebraucht habe, um dies zu erleben, mag lediglich dafür stehen, dass ich intuitiv diesen Bands lange Zeit erfolgreich ausgewichen bin. Obwohl ich einen gewissen der Tragik geschuldeten Respekt für die Mitglieder der Kelly Family empfinde, war ich nie Fan und auch nicht von Justin Bieber. Ich mache mich darauf gefasst, dass dieses Konzert nicht das letzte dieser Art war. Andererseits zeigt die Erfahrung der neueren Zeit, dass es den kommerziellen Kräften nicht gelingt, langlebiges zu produzieren. Ich denke, auch TDS werden irgendwann überflüssig werden und viel Spaß bei kleineren Auftritten vor einer tatsächlichen Fangemeinde haben. Dabei drohte ihnen bereits das Karriereende: Erwartungsgemäß störten sich Leute an ihrem Song “Banjo Odyssey”. Ob jetzt das Inzest Tabu nur verschoben gewirkt hat oder was da sonst passiert ist, möge die Kulturwissenschaft untersuchen; jedenfalls veröffentlichte die Band diese Erklärung/Distanzierung. Damit scheint alles wieder gut. Schade. Vielleicht nutzen sie beim nächsten Mal die Gelegenheit.




* ist das eigentlich LTI? Es sollte LTI sein.
** Freilich taten sie dies innerhalb der Geschlechternormen. Männer riefen Zeug wie “Jaaaaa!” und “Jaba-daba-doo!”, wie um dies auf die plumpeste aller Arten nach außen zu zeigen, Frauen bewegten sich in der soziologischen Klammer der woo-girls.***
*** Dass man Begriffe der völlig partikularisierten und spezifischen Umgangssprache mittlerweile in einem Lexikon nachschlagen kann, ist großartig und knabbert schon am Oxymoron.
**** was sich darin zeigt, dass man mithilfe von Youtube nicht auf direktem Wege andere Menschen töten kann wie mit Autos oder Waffen
***** lies: zum Unterordnen
****** Marx würde wahrscheinlich in manisches Gelächter ausbrechen.
******* Ein Aufwand, den echte Vertreter des Zeitgeistes zu bequem sein müssten, zu betreiben.
******** Meine Position, da man ja nunmal eine haben muss: Ich finde Lieder über Inzest gut, aber dieses ist anfällig für Missverständnisse. Ich selbst fühle mich auch unwohl, wenn ich den Text höre. Eine böse oder verharmlosende Absicht erkenne ich nicht.

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