20 Nov 2018
Er ist ja noch jung
“Ich kann nicht Blaine Cartwright sein!”, fiel es X wie Schuppen von den Augen. Einmal abgesehen davon, dass es durchaus Vorteile hat, nicht Blaine Cartwright zu sein, oder Benjamin Blaine Cartwright, wie X dank des schrecklichen Versuches seitens Youtube, der Urheberrechtslobby in den (abstrakten) Arsch zu kriechen, wusste; ein Wissen, auf das X liebend gerne verzichtet hätte, aber das sich infolge harmlosen Runterscrollens unter ein Youtube-Video nun für immer in X’ Gedächtnis wiederfinden würde, und überhaupt, dachte X, wieso gibt es da nicht mehr Widerstand gegen diese Kräfte, die seit Jahren versuchen, im Internet organisch gewachsenes Chaos durch von oben verordnete Ordnung (!) zu ersetzen, unter dem Vorwand, dass das Chaos Raum für Missbrauch biete, und dabei gleichsam dem Darknet Geburtshilfe leisten, nein, da machte X nicht mit, und würden auch alle unseriösen free-tv-Websites nach und nach kassiert, und kostete Netflix oder eine vergleichbare Serienmühle auch fast nichts, es wäre immer noch ein Abo von fast nichts
und da machte X, bekanntlich, nicht mit, und recherchierte lieber stundenlang, um dann eine Folge “Extras” in schlechter Qualität zu sehen. Doch darum ging es ja gar nicht, zumindest nicht mehr als es X darum immer ging, nein, es ging um die Erkenntnis, die X befallen hatte, namentlich diejenige, nicht Blaine Cartwright sein zu können.
In vielfältigen Variationen spukte sie X durch den Kopf. ZB so: “Ich kann nicht Blaine Cartwright sein. Blaine Cartwright ist bereits Blaine Cartwright.”
Leider hielt dieser Gedanke, so unerträglich er für X auch sein mochte, allen logischen Prüfungen stand und so musste X sich damit abfinden lernen, so wie Blaine Cartwright Blaine Cartwright war,
dann eben X zu sein. Es war auch überhaupt nicht so, dass X Blaine Cartwright sein wollte, aber X wusste, dass X Blaine Cartwright sein könnte, wenn X Blaine Cartwright wäre.
Das half allerdings auch eher wenig, zumal das alles ja auch nicht nur für Blaine Cartwright galt, sondern für alles und jede, zu deren oder dessen Werk X jemals in Beziehung getreten war. Blaine Cartwright diente hier mehr als pars pro toto oder einfacher: als Beispiel, Exempel, Vorzeigesubjekt für X’ wirre Gedanken; viele andere Namen hätten an Blaine Cartwrights Stelle in X’ Kopf erscheinen können, jeder einzelne davon hätte genauso die Funktion bekleiden können, die nun Blaine Cartwright bekleiden musste, doch es erschien eben kein anderer Name, so wie jedes Wort, das wir denken oder aussprechen, für Abermillionen von Wörtern steht, die wir nicht aussprechen………. sondern Blaine Cartwright. Damit musste X nun leben, was sich als schwierig gestaltete.
Falsch läge, wer behauptete, X habe davon geträumt, Blaine Cartwright zu sein, soviel steht fest, doch die Erkenntnis, es nicht sein zu können, traf X mit der Wucht, mit der jemanden die Erkenntnis trifft, nicht jemand sein zu können, der man nie sein wollte.
Also nur sein zu können, wer man ist.
Gegenüber den Toten lässt sich dies zu akzeptieren ja noch etwas einfacher an, dachte X: Dass X nicht Angelika Schrobsdorff oder Hermann Hesse sein konnte, war kein Skandal, denn niemand war aktuell Angelika Schrobsdorff oder Hermann Hesse, während Blaine Cartwright, naja nicht quicklebendig, aber doch “unverschämt” (X) aktiv sich auf der Bühne Bier über die Glatze goss, und genau aus dieser direkten Beziehung zwischen Performance und Publikum, dachte X, aus dem durch die Musik gemeinsam erlebten Moment heraus, musste sich jenes Erleben generieren, in dem die Grenzen der Individuen sich auflösten, in dem X und Blaine Cartwright für kurze Zeit eins werden konnten, so sehr, dass es X am nächsten Tag wie Schuppen von den Augen fallen konnte, nicht Blaine Cartwright sein zu können.
X überlegte, ob das womöglich die allseits esoterisch vorgebrachte Einheit aller Dinge sei, und war schon drauf und dran, spirituell zu werden, Kosmos ahoi!, doch verwarf den Gedanken rasch wieder, als X ein Plakat für die neue Documentary über die bekannte Glam-Pop-Band Queen sah, auf dem geschrieben stand: “Nur seine Geschichte war noch außergewöhnlicher als ihre Musik”. „Seine“, das wusste X, war Freddie Mercury, und „ihre“, das war eben erwähnte Kapelle, was X nicht wusste, war, wieso die Geschichte denn nur “war” und nicht vielmehr “ist”, zumal gerade durch das Plakat doch darauf hingewiesen wurde, dass sie jetzt erzählt wurde, in der
Gegenwart also, und außerdem, wie um alles in der Welt eine außergewöhnliche Biografie mit außergewöhnlicher Musik zu vergleichen sei (was das Plakat ja einfach tat, obwohl völlig futile, hier sehnte sich X mal wieder die Borg herbei, ja, die Borg würden den Kreativen gut tun, die so ein Plakat entworfen hatten, Klammer zu). Der Film hieß nach einem berühmten merkwürdig aufgebauten und durchgeführten Lied oder “Werk” der Band “Bohemian Rhapsody”, ein Lied, über das X nichts wusste, außer das man es gut finden musste, was X leider abging.
Plötzlich, X wusste selbst nicht, wieso, musste X an den Pausenclown Adam Lambert denken. Das brachte X gleich in eine entspanntere Atmosphäre, als X merkte, dass der Frontgimpel Adam Lambert im Grunde betrachtet werden muss als Resultat einer totalen Verweigerung ebenjener von X zuvor erfahrenen Erkenntnis: Der Trälleraugust Adam Lambert hat eben gerade nicht verstanden, dass er nicht Freddie Mercury sein kann.
So schade es X fand, immer wieder nur Frieden mit den schwer zu verdauenden Erkenntnissen schließen zu können durch die Negation, wurde X wieder warm ums Herz und X machte sich daran, wieder X zu sein.
Und für all die Momente, in denen es schwierig werden würde, nicht Blaine Cartwright sein zu können, würde X zurückgreifen können auf ein Werkzeug, welches seit Jahrtausenden genau zu diesem Zwecke eingesetzt wurde und sich mehr als bewährt hatte:
Das Zitat.
Möge der Hofnarr des Kapitals Adam Lambert irgendwann das gleiche tun.