29 May 2018
Wer lädt zum Kiezspaziergang? Die KiezspazierGANG.
Damit nicht alles in seinem catatonic state (Beefheart) verharren kann, den ein Weblog-Format wie dieses begünstigt, einige Nachträge:
Ich habe bereits darüber geschrieben, dass das dem Menschen eigene Freiheitsbedürfnis von den Herrschenden nicht vollends zerstört, sondern transformiert wird, so dass alle Freiheit in einem durch die
kapitalistische Handelsordnung (“Eigentum”) legitimierten und klar von der Öffentlichkeit abgetrennten Raum zu geschehen hat, ob es nun die eigenen vier Wände (sehr sinnbildlich) sind oder Grund und Boden
oder eben die Karre, der kleine Bruder der bürgerlichen Wohneinheit. In meiner selten konkret inhaltlichen Auseinandersetzung mit der scheußlichen Werbekampagne einer Mietwagenodersowasfirma wurde eben
auch für das Tun-was-man-will geworben (im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, versteht sich). Dazu zwei Gedanken:
Einerseits funktioniert dieses Versprechen, weil es ein Brinkel Wahrheit enthält: Die Menge an Freiheit, die das eigene Auto bieten kann, ist nicht besonders hoch, aber unterscheidet sich grundlegend
von der Situation einer ÖPNV-Nutzerin. Diese ist abhängig von dem Takt des Fahrplans, von den Fähigkeiten der Fahrer_innen, letztlich von verkehrspolitischen Entscheidungen. In meinen eigenen vier
Metallwänden hingegen fahre ich, wann ich will, so schnell wie ich will, so rücksichtslos wie ich will und dank jahrzehntelanger autogerechter* Politik innerhalb einer auf mich zugeschnittenen
Infrastruktur. Ich kann darüber hinaus selbst Temperatur, Musik, Design und Mitfahrer_innen bestimmen. Wenn das mal nicht Freiheit ist.
Im Gegenteil zeigt sich hier so stark das durch die kapitalistische Verwertungsmaschinerie verkrüppelte Freiheitsbedürfnis, dass all diese Vorzüge, die natürlich keiner empirischen Überprüfung standhalten
(Staus, aggressive Szenen auf den Straßen, Abhängigkeit von anderen Verkehrsteilnehmer_innen etc), offensichtlich ein Betrachten solcher Fakten, wie dass der ÖPNV in Städten sogar oft
effektiver und stressfreier ist als selbst zu fahren, überflüssig machen. Weshalb weltweit progressive Kräfte
fordern, den ÖPNV attraktiver zu machen. Trotz aller ekelhaften Implikationen, die hierbei hinsichtlich Marketing und PR mitschwingen - macht mal. Brecht die Hegemonie der autogerechten Städte!
In der Automobilrepublik Deutschland wird sich jeglicher Wandel dennoch bei letzter Gelegenheit ereignen.
Ebenfalls für ein unterdrücktes Freiheitsbedürfnis, das aufs Autofahren wild projiziert wird, spricht die Beobachtung, dass - sehr grob formuliert - beim Autofahren alle völlig ausrasten. Niemand wird
ernsthaft behaupten, dass es nicht eine auffällige Menge an irrationalem Verhalten im Straßenverkehr gibt. Leute ärgern sich über nichts, werten andere Leute ab, entweder völlig grundlos oder wegen Bagatellen,
der Anspruch an andere ist derjenige der Perfektion, während sie im eigenen Fall bereits selbstverständlich ist, andere rasen oder fahren extrem skrupellos, ohne zu sehen, warum das ein Problem ist,
wieder andere modifizieren ihr Auto oder Motorrad dergestalt, dass es mehr Lärm produziert, ohne jeglichen Vorteil, es wird belästigt durch laute ungefragte Musik, dröhnende Motoren und Unmengen an Abgasen,
alles Dinge, an denen die sonst so klaren Grenzen zwischen dem autofahrenden Subjekt und der Gesellschaft verschwinden, und das alles geschieht tagtäglich millionenfach. Ich will garnicht erst davon anfangen,
wie manche Menschen ihr Auto mit einer Sorgfalt pflegen und waschen, die sie niemals ihren Partnern oder Kindern angedeihen würden.
Und es ist nicht nur so, dass im Straßenverkehr alle freidrehen. Dazu kommt eine gefährliche Fehldeutung von Situationen oder Regeln als persönlicher Einschränkung. Fußgänger_innen, andere Autofahrer_innen
sowie Menschen auf Fahrrädern sind für Ottonormaltypi keine Subjekte, denen Empathie entgegengebracht werden sollte (zumal ALLE auch irgendwann mal NICHT im Auto unterwegs sind - hoffentlich), sondern
Einschränkungen, durch die sich die fahrende Person persönlich angegriffen fühlt.
“Muss der jetzt da lang gehen!” - “Hier ist 50! Warum fährt die nur 30!” - “Endlich biegen die Radfahrer mal ab!”
Alternative Erklärungen (also alternativ zu der Idee, dass alle einen persönlich ärgern wollen) bekommen in der Regel keinen Raum. Dass Leute, die irgendwo entlang gehen, vielleicht aus gutem Grund da hin wollen, dass
Leute, die langsam fahren, vielleicht vorsichtig sind oder etwas suchen oder sich nicht auskennen, dass Leute auf Fahrrädern vor allem dann auf der Straße rumnerven, wenn es keinen Radweg gibt, dass also
letztlich nicht alle nur deine eigenen Interessen im Kopf haben, sondern - Skandal - ihre eigenen, ist in diesen Momenten nicht präsent. Viel stärker ist das Gefühl, so meine These, eingeschränkt zu werden,
und das auch noch ausgerechnet dort, wo Freiheit (im kleinen Rahmen) versprochen wurde.
Und so wird jede tatsächliche Verfehlung der anderen extrem aufgebauscht, ebenso wie jede unangebrachte Verkehrsregel (“warum ist hier 50?”) kollektiv verspottet wird. Unsichtbar wird durch diese Fixierung
auf einen Teil des Ganzen, dass die meisten Verkehrsregeln sinnvoll und lebenswichtig sind und viele Leute sich auch rücksichtsvoll verhalten. Und dass ein aggressives Verkehrsverhalten seitens
nichtautofahrender Personen zB auch ein aktives Zurücknehmen der von der dominanten Autogerechtigkeit gewaltsam genommenen Möglichkeiten sein könnte … auf eine solche Reflexionsebene werden sich leider
die wenigsten Autoleute begeben. Und so schütteln wir alle weiterhin kollektiv unsere Köpfe über die “Fahrrad-Rambos” (BILD), als stolze Bürger_innen der Automobilrepublik Deutschland.
Nachtrag zum Nachtrag: Auch massenpsychologisch untersuchungswürdig wäre zB die Manifestation von sexistischen Rollenklischees im Straßenverkehr. Ich reiße das jetzt aber nur an, um damit zu prahlen, dass
ich dieses Thema innerhalb meiner universellen Kritik natürlich auch auf dem Schirm habe.
* Lese: “auto-gerecht”, als käme es von griech.
αυτός, dann sind wir bei selbstgerecht, was viel besser passt, ha!