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10 Jan 2018
Reite das Revival-Pferd! Reite es zu Tode!

Etwas, was im Jetzt offenbar überall Not tut, wohl weils beim Heranwachsen nicht oder nicht mehr dazu reicht, ist Identitätsbildung. Das Problem dabei ist, dass sie mit dem Begriff “Identifikation” synonym gedacht wird, wo es eigentlich eine pars pro toto ist, denn ohne Identifikation zwar kein Selbstgefühl, aber wo es zu diesem nie gereicht hat, hilft auch das nachträgliche Identifizieren nicht mehr, erst recht nicht mit den Angeboten, die die Herrschaft an dieser Stelle vorsieht. Es soll hier nicht um die psychologischen Implikationen des Eltern-Kind-Verhältnisses gehen; ich bin schließlich Blogger und nicht Freudianer.
Identifizieren soll man sich ja nun aber mit allem und jedem, sei es dem Staat, der Fußballmannschaft oder Fettgebäck, und das ist logisch. Staat und Wirtschaft, die ein und dasselbe sind, müssen die Angebote machen, um die Lücken im Selbstbewusstsein der Beherrschten aufzufangen und für ihre Zwecke zu verwerten. Schwierig dabei ist, dass nichts Identität herstellen kann, was nur Fassade ist und uneigentlich. Und so identifizieren sich die Meisten mit den Landesgrenzen, in die sie der Zufall hineinwirft, und scheitern zwangsweise, denn ein Gebiet mit Zaun drumherum ist nichts. Reaktionäre identifizieren sich mit der Vergangenheit, Liberale mit der Zukunft, und beide haben Unrecht, weil sie die “immerwährende Gegenwart” nicht als Bezugsrahmen ablegen können, in der die Vergangenheit begraben und die Zukunft vorweggenommen wird. Die Industrie bietet als Indentifikationsmöglichkeit das Produkt an. Trage Nike Jogginghosen, dann bist du… irgendwas. Iss ausschließlich bei McDonalds, denn ich liebe es. Branding, was nichts anderes bedeutet, als dass das Identifikationsangebot weit mehr präsent ist als der eigentliche Nutzen des Produkts, sofern es einen gab, hat mit den neuen Politikern, von Trump über Macron bis Duterte und Merkel (die alle für irgendwas stehen, tatsächlich), in die politische Elite Einzug gehalten, sowie auch umgekehrt. Dann die sogenannte progressive Variante des Ganzen: identity politics. Es ist kein Zufall, dass die sehr böse Hillary Clinton sich etwas zunutze gemacht hat, was aus feministischen und queeren Kreisen geboren wurde; es wurde möglich, sobald es mehr um Identifikationsmöglichkeiten ging als darum, was eine Person tatsächlich tut. Es gibt kaum gute Identifikationsangebote. Wer sich mit egal welcher Ideologie identifiziert, kann die darin enthaltene Utopie nicht erreichen, weil sie auf der Ebene der Identität schon erreicht ist - darin liegt unter Anderem der Stalinismus begründet. Läuft die Realität dem Inhalt des Identifizierten zuwider, wird das Angebot durch den Zwang ersetzt und so die falsche Identität global.
Und heute? Nerds und Technikfans identifizieren sich mit dem positiven Potenzial des technischen Fortschritts, sie werden also weltfremd und letztendlich affirmativ. Andere identifizieren sich mit ihrem Geschlecht, ihrer Rolle in der Familie oder ihrer sexuellen Orientierung und werden zu spät merken, dass das nicht ausreicht, solange es nicht ins Ganze eingeordnet wird, was aber wiederum bedeutet, dass es über die Identifikationsebene hinausgeht. Neonazis identifizieren sich mit der Nation und dem Tod; sie nehmen sich und allen anderen Menschen dadurch selbst jede Möglichkeit, das Jetzt zu ertragen. Andere, seien es althergebrachte Religiöse oder Hippies, wollen sich mit dem Universum identifizieren: Sie werden erkennen müssen, dass dieses kein Interesse an ihnen hat. Wieder andere identifizieren sich mit ihrer Arbeitsstelle, doch scheitern an ihrer eigenen Ersetzbarkeit. Am Schlimmsten aber erwischt es die Esos, Querfrontler und Verschwörungsanhänger - sie identifizieren sich mit der modernen Welt als Gesamtes. Ihnen bleibt nichts als verrückt zu werden.
Es gibt auch Angebote, die komplexer sind, zB die Identifikation mit Heimat, künstlerischem Erzeugnis oder anderen Menschen - diese stehen dem Menschsein nicht völlig entgegen; es ist daher kein Zufall, dass gerade sie große Schwierigkeiten in den jeweiligen Diskursen bereiten. Möge dieser Text Anstoß geben zu fruchtbaren Debatten über Identität. Ich selbst werfe diese drei Konzepte ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Menschsein - überall wird wie besessen daran gearbeitet, dass diese Dinge nicht identitätsstiftend für uns sein können, sei es durch die Erzählung, dass das bereits eingetreten sei oder durch die totale Entfremdung davon -
holen wir sie uns wieder.

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