07 Oct 2016
Die Brüste der Nofretete
Immer wieder – meist nach der leider notwendigen Lektüre von Zeitungen, Weblogs o.ä. - kommt ein Impuls in mir auf, übers Tagesgeschehen zu schreiben à la „was denkt eigentlich der_die Blogger_in hinter Grillmöbel, der „bekannten Website im Internet“ (Connect, 9/16), über Wikileaks/Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern/die (bitte mit einer möglichst verhohnepipelnden Stimme lesen) Causa Böhmermann?“
Dieser Impuls geht so weit, dass sich sogar ein aktuelles Trendthema in meine Brainstorming-Liste (internes Dokument) verirrt hat unter der Arbeitsüberschrift: „So it‘s come to this: Grillmöbel-Postionen zu Veganismus“. Brrr, da läuft es mir selbst beim Lesen kalt den Rücken hinunter, weshalb erwähnte Überschrift nunmehr Geschichte ist. Egal.
Jedenfalls, weil ich in Deutschland sozialisiert wurde oder zuviel antike Philosophie gelesen habe, gebe ich aber nicht jedem Impuls sofort nach und bei diesem ist das gut so, denn Tagesgeschehen ist etwas für all diejenigen Medien, die es betreiben, die über dieses berichten und nicht über das, was wichtig ist; zu Tagesgeschehen gibt es jede Meinung bereits, Tagesgeschehen ist in jeder Hinsicht nicht eigentlich, nein, Tagesgeschehen, die Gesamtheit an medial Berichtetem also, ist vielmehr die Folie, unter der die innersten Widersprüche dieser Gesellschaft verborgen werden und gleichzeitig für diejenigen erkennbar sind, denen das Tagesgeschehen nicht geheuer ist. Nicht dass ich nicht gerne meine Zeit verschwendete, aber doch nicht damit, mich an diesen ganzen Themen abzuarbeiten, die doch ohnehin alle dieselben zugrunde liegenden Dynamiken indizieren. Da müsste ich ja stets die wichtigsten Kommentare zu irgendeinem Skandal, über den „ganz Deutschland spricht“, differenziert gegenüberstellen, mir eine Meinung dazu bilden und andere anstrengenden und sinnlose Unternehmungen anstellen, nein danke, meine Meinung fundiert nicht auf dem, was sich an der Oberfläche ereignet, doch stellt man sich die Beschaffenheit eines Weltbildes solcher Genese vor, ist klar, woher diese ganzen Wirrskis/Querfrontleute kommen. Das Gefährliche daran ist, dass Themen oft einen Schein von großer Bedeutsamkeit vor sich her tragen; wie kann ich Berichterstattung über Terrorismus/Krieg/Politik denn einfach so für nichtig erklären?
Nun, wie bereits angeklungen, verweist alles, was passiert, auf gesamtgesellschaftliche Prozesse. Das heißt, solange etwas wie der entfesselte Turbokapitalismus entgegen alles Menschliche am Laufen gehalten wird, werden Leute zum Amoklauf ins McDonalds einladen und andere (oder dieselben) Leute werden sich für Kim Kardashians Hintern interessieren, wer auch immer das ist. Und andere Leute entfachen eine gesellschaftliche Debatte über Satire (gefühlt zehnmal pro Jahr), bei der bereits die Tatsache, dass eine Debatte geführt wird, den autoritären Charakter der Gesellschaft offenbart, in der sie (wieder und wieder) geführt wird. Ich persönlich nehme Tagesgeschehen nun seit mittlerweile Jahrzehnten so wahr, dass exakt dieselben Themen abwechselnd in einer Endlosschleife produziert, illustriert und debattiert werden, um danach mit einem plötzlichen Cut (wie oft wurde ab 2016 noch über den IS in Kurdistan berichtet?) bis zum nächsten Mal KOMPLETT aus den Köpfen zu verschwinden, die schuldigen Personen dabei meist schonend. Das ist der einzige Mechanismus, der Empörung und Bestürzung generieren darf und das am Besten täglich, so dass allgemein verlernt wird, sich tatsächlich zu empören/bestürzt zu sein, wenn VW Unmengen von Testwerten fälscht, um weitermachen zu können, wo Schluss sein muss, wenn sich sozialdemokratisch gebende Parteien für steigende Rüstungsexporte sorgen, wenn eine Staatschefin sagt „Wir schaffen das“, damit die Aufnahme von Geflüchteten im eigenen Land meint und gleichzeitig politische Entscheidungen trifft, die 1000e im Mittelmeer ertrinken lassen.
Doch eigentlich ist all das diesem politischen System schlichtweg immanent und gibt damit zwar Anlass zur Missbilligung, aber keineswegs zur Empörung; diese enthält nämlich immer auch einen Deut Überraschung, und Überraschung ist nicht angebracht, zumindest nicht darüber, dass im Kapitalismus Menschen und Unternehmen kapitalistisch handeln.
Also, zusammengefasst, ist die Fokussierung auf Tagesgeschehen und die Debatten, die dort geführt werden, m.E. nichts anderes als eine Alibitätigkeit, um bloß nicht in die Nähe der innersten Zerwürfnisse dieser Gesellschaft zu kommen, die dazu beiträgt, dass alles immer so weitergehen kann wie bisher. Daher: Nachrichten belächeln! Medien ignorieren! Probleme abschaffen!
(?)
Hilfreiche Info für den Verfassungsschutz No 7: Die Person hinter Grillmöbel war schon einmal mit einem ehemaligen Manager des KaDeWe zusammen in Urlaub