25 Aug 2016
Momentaufnahmen eines Musiknerds V - ninetynine red balloons
Ich war mal wieder beruflich in Berlin, denn um Rezensionen zu schreiben, womit ich ja bekanntlich mein Geld (vulg. „Kohle“) verdiene, muss man ja auch Veranstaltungen besuchen (oder einfach alles erfinden; ich habe in der Tat schon einige Rezensionen zB von Motörhead-Konzerten gelesen, bei denen die Schreiberlinge mit Sicherheit nichts mit der Band anfangen konnten, geschweige denn auf dem Konzert waren, sondern wahrscheinlich von Wikipedia und Setlist.fm die nötigen Informationen zusammengetragen haben und dafür dann Gehalt kassieren, naja egal) und ich rezensiere sehr gerne Bands, die ich mag, möglicherweise auch, um die Tradition des Panegyricus wiederaufleben zu lassen, nicht dass ihr, meine Leser_innenschaft euch wundert, wenn ich dereinst in der Fußgängerzone lobpreisende Festreden auf Musikgruppen darbiete, es ist durchaus eines meiner Lebensziele (vgl. Papst verprügeln), derartiges salonfähig zu machen. Wirrer Rede langer Sinn: Heute geht es um Leftöver Crack, eine der wenigen Bands auf der Welt, die das schaffen, wovon immer und überall fälschlicherweise die Rede ist, nämlich einen tatsächlich eigenen Sound zu haben; natürlich ist nicht das Produkt der Produktion gemeint, sondern die Gesamtheit aus Besetzung, musikalischem Rohmaterial und Arrangement, die bei LC wild zwischen Ska (ohne Bläser zum Glück), Death-Metal, Punk und Hardcore umherwabert, in den Studio-Versionen ständig irgendwelchen Quatsch mit nahezu allen denkbaren genrefremden Instrumenten und Effekten bringt und dabei insgesamt gegen jede Erwartung völlig klar und organisch ist. Dank eines hervorragenden Bühnensounds war jenes Konzert eine einzige Freude, darüber hinaus brachte fast die komplette Band (es gibt 3 Leute, die regelmäßig singen) dermaßen viel Energie nach außen, dass es mich immer wieder umgehauen hat. Ich will nicht das Wort „erfrischend“ benutzen, aber weiß auch nicht, wie ich die Show des mutmaßlichen Frontmenschen Stza besser beschreiben soll, bei dem ich durchweg das Gefühl habe, er singt und tanzt einfach so, wie er grade Bock hat, egal wie absonderlich es klingt oder aussieht. Selten habe ich jemanden gesehen, bei dem so offensichtlich ist, dass nicht die Einhaltung irgendwelcher Bühnenschönheitsnormen (schöner/angenehmer Gesang, Bauchmuskeln, Choreografie) Attraktivität erzeugt, sondern das Aufbrechen ebendieser; gerade Stzas linkisches Rumgehüpfe, der extrem merkwürdige Gesang und die Grimassen, die er uns dabei vorsetzt, enthalten eine bizarre Sexiness. Das Stagediving kommt nur einmal bei mir an, ansonsten weiche ich aus und überlasse die Divenden ihrem Schicksal, das mir egal ist, ich will die Musik sehen und nicht Leute schleppen. Leftöver Crack schaffen es mehrmals, einen tatsächlichen Dialog mit dem Publikum bzw einzelnen Gästen einzugehen. Einmal wollen sich zwei männliche Männer in der männlichsten aller Möglichkeiten, nämlich der Prügelei, ihre Männlichkeit beweisen, natürlich mitten in der Crowd, doch ein Machtwort von Brad Minus, dessen Aussehen und Performance zu schreien scheinen: „Ich bin seit 40 Jahren Punk, ihr seid lächerlich“, genügt, um diese ganz schnell ruhigzustellen: „No fights please“, mehr nicht. Ich bin sofort neidisch auf diese Punk-Autorität (paradoxes Wort, trotzdem angebracht) und freue mich, dass es funktioniert, denn generell ist das Publikum sehr angenehm und recht aware für ein pogobeinhaltendes Konzert, was auch trotz aller krassen musikalischen Ausnahmezustände und grenzwertiger Texte auf die Band zutrifft, die fast in allen Pausen zwischen den Liedern sich Zeit nimmt, auch auf die dahinter stehenden politischen Inhalte hinzuweisen. Darüber regen sich dann tatsächlich irgendwelche Kinder des Zeitgeistes im Publikum auf, wobei gegen Ende folgendes passiert: Sänger Stza hört mehrere Minuten den Klagen einer Konzertabsolventin zu, die relativ wütend weniger Gelaber fordert, sagt dann „I agree with everything you said“ und fährt anschließend fort mit dem Gelaber, nicht ohne die Person noch einmal vor allen bloßzustellen durch ein schlichtes und sehr gelassenes „Don‘t be mad“ - sei uns nicht böse, dass wir politische Inhalte wichtig finden, du Opfer. Selten etwas derart sympathisches und gleichzeitig souveränes gesehen. Leftöver Crack haben den Mut, ernstzunehmen, was ernstzunehmen ist und die Gelassenheit, lächerlich zu machen, was lächerlich ist. Und mit Sicherheit war es nicht der Allmächtige, der ihnen die Weisheit gegeben hat, das eine vom anderen zu unterscheiden, der kommt nämlich nicht so gut weg bei Leftöver Crack, weshalb mir die Band erneut kaum sympathischer sein könnte. Eigentlich sind LC eine Crossover-Band, würde ein Kenner der Popkultur wahrscheinlich gleich losdiagnostizieren, doch nur ein Narr kann glauben, dass eine solche Beschreibung dieser wahnwitzigen musikalischen Extravaganz gerecht wird, wo die Drums sich metallastig um den Verstand spielen, während die Gitarren engelsgleiche Melodien von sich geben, Stza mal eben auf der Orgel (Punkband mit Orgel, ebenfalls ein Debut für mich) Quartvorhalte spielt, der Bass irgendwas ganz anderes macht und der linke Gitarrist (von mir aus gesehen) eine Art Parodie stereotypen Rocksteady-Gesangs gibt, die urkomisch wirkt, gerade weil sie so gut ist. Jedesmal habe ich bei LC das Gefühl, in eine Welt gelangt zu sein, in der es die Leute geschafft haben, sich wirklich von gängigen Normen und Vorstellungen zu lösen und gleichzeitig die Scheiße der Welt unfassbar humorvoll servieren, wie ich es niemals könnte. Wenn ein Leftöver-Crack-Konzert eine solche Erfahrung ermöglicht, darf nie wieder eines verpasst werden, denke ich mir (wie beim letzten Mal) beim Verlassen der Konzertstätte. Danke wie immer!