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04 Oct 2015
You know what I mean, when I say I hate everything - I mean that I hate everything

6: Erinnerungen

Was an so einem Baby ganz gut ist, ist, dass Zeit in weniger festen Kategorien abläuft und wann immer irgendwas, erst recht fiktives, in weniger festen Kategorien abläuft, ist das gut. Ein Beispiel: Das Wochenbett verflog nur so dahin. Gleichzeitig scheint die Geburt als gleichsam wochenbettauslösender Vorgang eher Jahre zurückzuliegen als Wochen und Monate. Während außerdem ansonsten ja immer gefordert wird, im Jetzt zu leben (carpe diem), aber auch die Zukunft auf dem Schirm zu haben (memento mori, hehe) und vor allem die Vergangenheit auch nicht zu vergessen (revoce praeteritum, das fordern aber eigentlich nur tolle emanzipatorische Leute wie die vom Grillmöbel-Blogteam), verschmelzen im Beisein eines Babys Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem undurchsichtigen temporalen Brei. Zukunft, klar, weil das Baby ja fast nur Zukunft hat im Gegensatz zu Vergangenheit und weil Kinder ja die Zukunft sind, weiter im Text, Gegenwart, weil ohnehin mit Kind alles und immer Gegenwart ist, interessant wird es bei Vergangenheit. Die eigene Vergangenheit zu verstehen nämlich ist für das Einzelwesen ebenso wichtig wie es für die Gesamtgesellschaft unerlässlich ist, die gesamtgesellschaftliche Vergangenheit zu verstehen. Da aber bei der Gesellschaft wohl Hopfen und Malz verloren ist (siehe hier), rückt für mich gerne meine eigene Vergangenheit in den Fokus (spart den_die Seelenklempner_in, ein sicher selten gegenderter Begriff), gerade wenn es, und hier kommt das Baby, um sogenannte (und wirklich so genannte) „Erziehungsfragen“ geht. Und dann versuche ich, herauszufinden, was mich unglücklich gemacht und gestört hat als kleinen Menschen, um das dem Baby in Zukunft (Ha! Zukunft!) vielleicht zu ersparen. Neben schlechtem Essen, blöden Menschen, extremer Gleichförmigkeit, nicht vorhandener Begeisterung für fast alles, beschissenen sozialen Strukturen und Mechanismen, einer Unzahl an Zwängen, fehlenden Angeboten jeglicher Art, allgemeiner Dummheit, provinziellem Stumpfsinn, zu seltenen Momenten von Ehrlichkeit und echten Gefühlen, unsensibler Kommunikation, Missachtung von Bedürfnissen, anachronistischem Festhalten an sinnlosen Traditionen, grauenhaften Smalltalk-Gewohnheiten, rechtsoffener politischer Gesinnung, völliger Ignoranz historischer Entwicklungen und Analysen, Nichtakzeptanz all derjenigen Lebensweisen, die von der normierten eigenen abweichen, Gartenzäunen, Grenzüberschreitungen und Kirchenglocken war das aber vor allem die Art und Weise, wie in diesem schrecklichen Kontext Dinge, Probleme und Sachverhalte nicht erklärt oder vermittelt wurden. So fuhr jede Familie in Urlaub, nicht aus einer Sehnsucht heraus, sondern weil man halt in Urlaub fährt, wenn man sonst das ganze Jahr arbeitet, man geht nicht in die Kirche, weil die innerste Überzeugung das verlangt, sondern weil man halt in die Kirche geht und das schon immer so war, man wählt Rechtspopulisten (CDU, FDP, SPD), weil man halt so wählt, man macht einfach alles, weil man es halt macht. Klar: Wenn ich die Protagonisten dieses Real-Life-Horrorfilms gefragt habe, kam durchaus eine Antwort, die andeutungsweise in Richtung eigene Meinungen und Wünsche ging, aber was durch den ganzen Kontext bei mir ankam und bis heute geblieben ist, war stets: So machen wir das, das macht man so, so ist es eben, so war es immer. Wahrscheinlich stirbt man auch nur, weil es ab einem bestimmten Zeitpunkt unbotmäßig wäre, weiterzuleben.
Man lebt übrigens nicht so, weil alle so leben, sondern alle leben so, weil man halt so lebt – ein wichtiger Unterschied! Ich brauche nicht zu analysieren, wie diese Art zu leben sinnlos ist, mir geht es um etwas anderes, nämlich wie bei Religion oder Kleinfamilien das vorschnelle Urteil anzugreifen, dass diese Art zu leben womöglich sinnlos sei, aber ja keineswegs zu kritisieren (jeder nach seiner Facon blabla), da nur zu kritisieren sei, was Schaden anrichtet; zu zeigen also, dass es Schaden anrichtet, an einem Ort und in einem Kontext aufzuwachsen, wo alles in inhaltsleeren Ritualen und Traditionen angerichtet ist, vom Essen über Kpmmunikation über die eigene innerste Überzeugung bis zu dem, was dort „Erziehung“ genannt wird (weil man das halt so nennt; Begriffe reflektieren wird wahrscheinlich nie da ankommen. Ist aber auch vielleicht nicht erste Priorität). Meine Erfahrungen hierbei machen sicher eine Analyse in 10 Bänden möglich, daher beschränke ich mich für den Post auf ein kleines Beispiel, um das ich, nunmehr Bezugsperson eines Kindes, das ja irgendwann auch einmal in eine Schule Verwertungsanstalt kommen werden muss, erst kürzlich Bewusstsein erlangte, obwohl meine Schulzeit schon fast ein Jahrzehnt zurückliegt. So fiel mir auf, dass ich (im Gegensatz zu vielen anderen mir bekannten und befreundeten Menschen) NICHTS an schulischem Wissen (also nicht Methoden, sondern Erkenntnissen) hinter das Abitur mitgenommen habe, nicht, weil es mir an der Fähigkeit oder Gedächtniskapazität mangelte, sondern weil oben beschriebenes Denk- und Lebensprinzip zu einer traurigen Entwicklung geführt hat, dass nämlich zu keinem Zeitpunkt jemals mir ein Sinn des In-die-Schule-Gehens offenbar wurde. Nirgendwo in meinem Umfeld hätte jemand einem jungen Menschen vermittelt, dass ḿanche schulische Stoffe in der Tat zu einem besseren Verständnis der Abläufe in der Welt beitragen können und sollen, was mir damals sogar sehr zugänglich gewesen wäre. Nein, von Anfang an war klar:
Ich gehe in die Schule, weil man in die Schule geht.
Und das Krasse daran ist: Das ist 12 Jahre lang so geblieben. Ein Umstand, der nur auf die der sozialen Denke so ähnlichen Bildungsmodelle und die Gleichschaltung aller Lehrsubjekte zurückzuführen sein kann. Denn macht man etwas, weil man etwas macht, so beinhaltet das einen Zwang, der sich folgendermaßen illustrieren lässt: In der Schule angekommen, lernte ich für gute Noten und nichts anderes, weil jeder Schüler lernt, um gute Noten zu bekommen (ich verzichte auf Genderkram, um der dortigen Realität näher zu sein). Bei den für mich weniger interessanten Fächern lernte ich, weil man nicht sitzenbleiben will, denn sitzenbleiben ist schlecht, weil man dann länger zur Schule geht, obwohl es doch scheinbar gut ist, zur Schule zu gehen. Unlogische Weltbilder führen stets irgendwann zu Wirrsal. Egal. Lernen also zu keinem Zeitpunkt für Inhalte, nur um weiterhin im System zu bleiben. Und das eigentlich bewusst. Dennoch kein Problem darin gesehen, so mächtig die zugrunde liegende Ideologie vom Tun-weil-man-es-tut. Dann, wohl um aufkeimende Bedenken zu ersticken, später ein neues ebenso sinnentleertes Ziel: Lernen für den bestmöglichen Abschluss. Warum? Weil seit jeher das klare Ziel eines jeden Schülers im bestmöglichen Abschluss besteht. Nicht, Interessen zu erwecken, wichtige Dinge über die Welt zu lernen, Erkenntnisse zu gewinnen, eine fundierte Meinung zu entwickeln, komplexe Strukturen zu durchschauen, nein, gute Noten, gute Noten, gutes Abi, wozu? Wegen Arbeit. Und arbeiten tut man (na?), weil man eben arbeitet, was auch sonst, also arbeiten muss. So legten sich 12 Jahre schulische Erfahrung für mich als eine Art Spiel dar, welches ich gut beenden wollte und gut beendet habe. Die totale Nichtbezugnahme auf Inhalte hatte den Vorteil, dass diejenigen Fächer, deren Methodik und Arbeitsweise mir Spaß machte, nämlich naturwissenschafltiche Fächer, Deutsch und Latein, die also meine ohnehin vorhandenen Interessen bedienten, die Zeit nicht vollständig zu verlorener machten. Mittlerweile betreibe ich nahezu nichts mehr davon aktiv und begeistere mich eher aus Notwendigkeit für all diejenigen Richtungen, für die ich damals keine Sekunde mehr als notwendig investiert hätte. Jetzt könnte einer sagen: „Naja, Interessen ändern sich, alles zu seiner Zeit faselfasel“ und damit Recht haben, ich halte aber dagegen, dass nicht nur fehlendes Interesse dafür verantwortlich sein kann, dass ich nicht weiß, wie Aktien funktionieren, was die Münchner Räterepublik für den internationalen Sozialismus bedeutet hat, warum Menschen zweimal im Leben zahnen, welche Pflanzen und Pilze giftig sind, wer Paul Mattick ist, wie Hefe funktioniert, wie der entfesselte Turbokapitalismus brutal sich durchsetzen konnte, was der Unterschied zwischen Sticken und Stricken ist, wie die Geschichte des Asylrechts verlief, was die Gründung des Staates Israel weltpolitisch bedeutete usw usf.
Mehrere Bereiche von Kritik sind hier ungeschickt vermengt. Mir geht es aber nicht darum, reaktionäre Lehrplanauswahl anzugreifen oder ansprechendere pädagogische Präsentation zu fordern. Vielmehr muss ich sehen, dass ich viele dieser Dinge durchaus gelernt habe, gerade manche historisch-politischen Inhalte, und dank der unbewusst verinnerlichten Überzeugung, zur Schule zu gehen, WEIL MAN EBEN ZUR SCHULE GEHT bzw. deren Abstraktion, zu lernen, um in der Abfrage dieses Wissens mit Erfolg abzuschneiden, unmittelbar nach der Prüfung wieder vergessen habe, vergessen hier transitiv gebraucht. Das ist nicht so gemeint: „Höhö, nach der Klassenarbeit hab ich alles sofort wieder vergessen“, nein, ich habe wirklich ALLES, was nicht Methode, nicht Technik war, SOFORT vergessen und, noch schlimmer, NIEMALS mir angewöhnt, etwas zu lernen, um es zu behalten oder eine Erkenntnis daraus abzuleiten. Und so sitze ich heute da und lese das mittlerweile sechste Buch mit ähnlichem Inhalt über die Geschwister Scholl, um vielleicht irgendwann einmal zu wissen, was die so gemacht haben…

Vielleicht wäre schon mal was gewonnen, wenn sich die Leute mit den Geschwistern Scholl auseinandersetzten, weil man das eben macht.

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