grillmoebel
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10 May 2015
Bariblukulelonges

Ich bin ja ein totaler Fan von Weihnachten Weinnachten, weil es da gutes Essen und Geschenke gibt und ich mich obendrein über Leute amüsieren kann, die denken, ihnen würde ewige Glückseligkeit an der Seite Gottes zuteil, wenn sie einmal im Jahr zur Kirche gehen. Oh nein, das reicht nicht, man muss seine Feinde lieben (Mt 5, 43ff, ist das überhaupt semantisch möglich?), im Geheimen fasten (Mt 6, 16ff) und sich das Auge ausreißen, sobald man eine andere Frau als die gesetzlich angetraute begehrlich ansieht (Mt 5, 27ff). Hm. Die Ratschläge der Bergpredigt scheinen wohl zu wichtig zu sein, als dass Obermacho Jesus sie auch an Frauen richten würde. Die Bergpredigt ist übrigens nicht so gut, wie alle immer behaupten, einfach mal lesen!
Jetzt aber zurück zum Thema: Weinnachten. Letztes Weinnachten wurde mir ein besonderes Geschenk gemacht: Ich bekam eine CD, genauer gesagt ein Folk-Album, über das die Person, die mich beschenkte, zuvor eine Rezension gelesen hatte. Dort wurde die CD ordentlich in die Stratosphäre bzw. darüber hinaus gelobt und so gedieh Hoffnung, dass das Album mich zufriedenstellen würde. Ich mochte das Geschenk sehr, weil ich Rezensionen super finde (ach was) und es mich überrascht hat, denn: weder vom Interpreten noch von dem Album hatte ich je etwas gehört, es handelt sich um Sam Amidon, die Platte heißt „Lily-O“. Zum Glück kam ich nicht in die unangenehme Situation, das Geschenk nicht zu mögen und das irgendwem mitteilen zu müssen, denn gleich nach dem ersten Hören habe ich es nochmal gehört und das lag daran, dass das Album sehr gut war. Jetzt mag man zu Opening Tracks stehen, wie man will (mehr dazu einst in der großen Opener-Diskussion hier auf Grillmöbel), „Walkin’ boss“ ist definitiv ein großartiger. „Voll auf die Zwölf“ ist vielleicht eine Redewendung, die hier ganz gut passt. Amidon spielt Banjo wie ein bekloppter und singt dazu auf eine merkwürdige Art und Weise den Blues, dass es eine Freude ist. Im Gegensatz zu Rezensent X finde ich die Stimme allerdings nicht knackig-rau, sondern eher eine Mischung aus Eddie Vedder und dem frühen Dermot Morgan, denn da ist so eine subtile Unmotiviertheit, die wie eine Weigerung klingt, in einem Sinne „gut“ zu singen, wie ihn die selbsternannten musikalischen Eliten über lange Zeiten konstruiert haben. Also so ähnlich wie Björk. Ich finde das natürlich super, ebenso (im Gegensatz zu X), dass das zweite Lied extrem anders ist: Nach dem straight durchgehaltenen, stilechten und eingängigen „Walkin’ Boss“ kommt „Down the line“, ein wirrer Mix aus Dissonanzen, unpassend pathetischem Gesang und einem sehr unfolkigen Rhythmus inklusive vereinzelt angebrachter Elektroelemente. Dass das ein Arrangement eines traditionellen Folksongs ist, wäre mir niemals in den Sinn gekommen, doch das wird noch öfter passieren bei dem Album. Im 3. Track hält er sich allerdings mit den experimentellen Ausschweifungen wieder etwas zurück, wodurch der bearbeitete Folksong auch mal zu erkennen ist, die „Blue Mountains“ plätschern so vor sich hin, Amidon lallt dazu selbstironisch „Da da da“, fidelt noch ein bisschen durch die Gegend und dann kommt auch schon „Pat do this, Pat do that“, worüber Rezensent X sagt, dass „die Instrumentierung köstlich daherrumpelt“ (vgl. X, 2014), was ich nicht treffender ausdrücken kann. Man versteht den rhythmischen Ablauf des Songs nicht wirklich, wahrscheinlich wird er deshalb auch achtzehnmal wiederholt, aber trotzdem möchte ich beim Hören am liebsten den Veitstanz kriegen. Dass der Titeltrack „Lily-O“ der „Schlüssel-Track“ (X) des Albums ist, kann ich nicht ganz leugnen, denn was da mit der Hörer_innenschaft gemacht wird, ist eigentlich fast schon unverschämt, das ganze Lied ist ein einziges An-der-Nase-herumführen, immer wenn man denkt, man versteht die Musik, blökt irgendein neuer unpassender Ton rein, der jede bisherige Akkordinterpretation ad absurdum führt und darüber singt der gute Sam einfach seine 19 Strophen, als würde der instrumentale Unsinn garnicht stattfinden. Stimmt das, was X sagt, so wurde das Album live aufgenommen, was bei diesem Lied eine fast unglaubwürdige Leistung ist. Da ich Lieder mag, die mich verballhornen wollen, auch wenn sie nicht wirklich schön anzuhören sind, kann ich das Titelstück nur gutheißen. Track No. 6 heißt „Groundhog Variations“, also Murmeltiervariationen und genau so klingt es. Während aus der Gitarrenbegleitung klar hervorgeht, dass wir ein freundliches Lied erwarten dürfen, muss natürlich der Bass eine Moll-Skala spielen, die das alles stante pede zunichte macht. Für Jazzer_innen ist das wahrscheinlich alles keine große Sache, aber ich bin ja zum Glück keiner und deswegen auch noch von sowas beeindruckt. Doch auch die Melodie macht es mir nicht leicht: Bald Kinderlied, bald Grenze der Musik, bald Jazz, bald Lektion Nr.1 Gitarrespielen, diese wirre Gleichzeitigkeit hat letztendlich dazu geführt, dass „Groundhog Variations“ mittlerweile mein Lieblingsstück auf der Platte ist. Dicht gefolgt vom nächsten Track, der Gospel „I won’t turn back“, der vom Arrangement her genauso von Tom Waits sein könnte, nur weniger stampfend und irgendwie sanfter. Doch darin liegt sogar eine gewisse Stärke, denn das Schleppende, das bekanntlich (?) den (langsamen) Gospel zum guten Gospel werden lässt, vermögen Sam und sein Ensemble so noch besser durchzusetzen. Lässt man sich also emotional auf dieses Bekenntnis zu Jesus Christus ein, welches hoffentlich der Stilechtheit geschuldet ist und nicht einer religiösen Überzeugung, wird „I won’t turn back“ zu einer (wissenschaftlich erklärbaren) erhebenden Erfahrung. „Maid Lamenting“ hingegen finde ich nicht schlecht, aber einfach zu verjazzt, denn die Melodie gäbe eigentlich viel für eine eher traditionelle folkige Version her. Für mich ist dieses Lied der Punkt des Albums, der wirklich zu weit von „Walking Boss“ entfernt ist, besser wäre die Platte (für mich), wenn an genau dieser Stelle ein weiterer solcher Banjo-Blues-Wahnsinn stattfinden würde. Aber gut, man kann nicht alles haben und die letzten beiden Lieder bilden tatsächlich dennoch eine Art Ausklang, wobei ich mir die Reihenfolge genau umgekehrt gewünscht hätte: Besticht nämlich „Your Lone Journey“ durch eine tolle Melodie und eine sehr minimale und unjazzige Begleitung, erstreckt sich „Devotion“ auf der anderen Seite sowohl instrumental als auch vom transportierten Gefühl her sehr weit, fast zu weit in den Raum hinein. Das Lied arbeitet mehr mit Klängen und Obertönen als mit gutem Songwriting, was für mich eher ein anstrengender Ausklang ist. Zwar trällert Amidon am Schluss noch einmal ein wenig, doch diesen Song so am Ende zu bringen, schreit mir potentielle Intentionen wie „Musik muss sich Zeit lassen“ oder „Man muss in den sphärischen Klängen dieser Musik verschwinden können“ zu sehr entgegen. Ich habe das Problem jetzt einfach gelöst und durch Umbenennen die beiden Titel 09 und 10 vertauscht, jetzt ist es besser. Sowas wäre auf Kassette nicht oder nur mit sehr viel Aufwand möglich gewesen! Jetzt ist das Album perfekt auf mich zugeschnitten und es ist eines, welches vor allem Spaß macht, wenn man es am Stück hört.
Zusammenfassung: Wow, Huch, Hm, Yeah, WTF, Hö?, Oooh, ok?, mmmmh, puuuuh. Das war jetzt etwas grob für jedes einzelne Lied eine Interjektion. X hat recht, „Lily-O“ ist tatsächlich Lichtjahre vom Klischee entfernt, wenn man das Folk-Klischee meint, manchmal leider nicht weit genug weg vom Klischee des Jazz-Arrangements. Doch um ehrlich zu sein: Wäre jeweils nur einer der Tracks „Walkin’ Boss“, „Grundhog Variations“, „Pat do this, Pat do that“, „I won’t turn back“ oder „Lily-O“ zusammen mit 9 deutschen Schlagertiteln auf dem Album, wäre es trotzdem ein gutes Album. O ja, ich möchte die Rezension lesen, die diesen Lobpreis überbieten kann! Da Rezensionen ein Fazit ziehen müssen, ziehe ich das Fazit, dass „Lily-O“ ein sehr gutes Geschenk war und kann nur noch hinzufügen (sorry für den drögen Witz am Ende): Play it again, Sam.

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